Gurke, Traube & The First Nations

Diese weihnachtlich-angehauchte Folge ist das Türchen #13 im Wisspod-Adventskalender. Und alle bisher erschienenen Folgen findet ihr unter dieser URL: https://wissenschaftspodcasts.de/themenseiten/wisspod-adventskalender-2025
S03E1324 Wir erzählen zwei Geschichten, die den Brauch des Schenkens – auch zu Weihnachten – auf vielleicht ungewohnte Weise beleuchten.
1. Lieber keine Gurke in der Hand als die Traube auf dem Dach!
Verhalten als Austausch
Fast alle Interaktionen zwischen Menschen enthalten eine Komponente von Geben und Nehmen.
– Ich gebe Dir 45,21 Euro, dafür gibst Du mir 26,75 Liter Benzin.
– Ich verzichte auf etwas, dafür bekomme ich Anerkennung.
– Ich helfe dir beim Umzug, dafür hilfst du mir beim Renovieren.
– Ich höre Dir zu, dafür hörst Du mir auch zu.
– Ich liefere dir Daten, dafür bekomme ich kostenlose Dienste.
– Ich poste ein Bild, dafür bekomme ich Likes.
– Ich arbeite acht Stunden am Tag, dafür bekomme ich ein Gehalt.
– Ich ziehe Dich groß und ernähre Dich, dafür zahlst Du meine Rente.
Versucht man menschliches Verhalten zu verstehen oder zu erklären, bietet sich also der Begriff des Austauschs als erklärendes Moment. Tatsächlich gibt es gleich mehrere Austausch-Theorien, die jegliche menschliche Entscheidung in ein Kosten-Nutzen-Kalkül einpassen. Die älteste stammt von George Caspar Homans, dem Begründer der „Behavioral Sociology“ und einer der Hauptvertreter dieser Idee. Seine grundlegende Veröffentlichung dazu erschien 1958 mit dem Aufsatz „Social Behavior as Exchange.“
- Homans, G. C. (1958). Social behavior as exchange. American Journal of Sociology, 63(6), 597–606. https://doi.org/10.1086/222355
Auch Weihnachten in einer typischen Familie ist in gewisser Weise nichts anderes als ein komplexer Austausch von materiellen und immateriellen Gütern. Die Kinder investieren Wohlverhalten (…sind „brav„) und vielleicht selbstgebastelte Geschenke, dafür erhalten sie Geschenke mit einem bestimmten materiellen Wert, die sie sich selbst nicht leisten könnten. Der Zauber der heiligen Nacht wird durch diese merkantile Betrachtungsweise zwar etwas gedämpft, aber nüchtern betrachtet trägt sie sehr weit, wenn man die verschiedenen glücklichen oder unglücklichen Situationen, die wir alle Heiligabend erleben, verstehen will.
Gerechtigkeit
Ein Bescherabend ist ja ein Geben und Nehmen, und nur wer ausreichend gibt, kann damit rechnen, in gleichem Maß nehmen zu können. Ein zweiter Gedanke, der dann unweigerlich ins Spiel kommt, ist: Gerechtigkeit. Wurden Torben und Pauline denn auch gleich behandelt? Man merkt es an der Laune und an der Kooperationsbereitschaft, die sich nach der Bescherung einstellen. Haben die Eltern es richtig gemacht, fühlt sich der Nachwuchs im gleichen Maß belohnt und beschenkt. Wenn man es falsch gemacht hat, fühlt sich ein Sprössling ungerecht behandelt und als Folge wird auch der Eifer beim Tischdecken und Aufräumen entsprechend bescheiden ausfallen – ganz zu schweigen von Wut und Tränen.
Ergänzt man die Idee des Austauschs durch die – dem gesunden Menschenverstand eigentlich sehr plausible – der Gerechtigkeit, erhält man also einen zweiten theoretischen Rahmen, der unter dem englischen Begriff für Gleichheit oder Fairness gehandelt wird, nämlich „Equity“. Auch hier zitieren wir den Gründervater des entsprechenden Theoriegebäudes, den Organisations- und Sozialpsychologen John Stacy Adams:
- Adams, J. S. (1963). Toward an understanding of inequity. Journal of Abnormal and Social Psychology, 67(5), 422–436.
https://doi.org/10.1037/h0040968
Für den Deep Dive in die Thematik eignet sich dieser vielzitierte Beitrag von Ernst Fehr und Klaus M. Schmidt aus dem Jahr 2006:
- Fehr, E., & Schmidt, K. M. (2006). The economics of fairness, reciprocity and altruism–experimental evidence and new theories. Handbook of the economics of giving, altruism and reciprocity, 1, 615-691.
https://econ.ip-paris.fr/wp-content/uploads/2020/02/Fehr-and-Schmidt-Handbook.pdf
Inequity Aversion im Tierversuch
Tritt die angedeutete Situation ein, dass verschiedene Protagonisten ungerecht belohnt oder bezahlt werden – sagen wir es ganz abstrakt -, dann haben wir es mit „Inequity“ zu tun. Und wer hierauf negativ reagiert, zeigt ein Verhalten, das man „Inequity Aversion“ nennt. Wir wissen, wovon wir reden, denn wir alle sind schon einmal unfair behandelt worden und haben darauf mit Frustration und Ärger reagiert.
Weihnachten ist in dieser Hinsicht ganz besonders gefährlich, denn es gibt kaum eine Situation, in der wir das, was wir einer schenkenden Person im wahrsten Sinn des Wortes „wert“ sind, so direkt miteinander vergleichen können. Socken, Diamant-Armbänder, Action-Figuren, Bücher, Playstations, Krawatten, selbstgemalte Bilder gelangen in eine komplexe Berechnung, in der nicht nur der materielle oder immaterielle Wert, sondern auch der zur Erlangung des Geschenks erforderliche Aufwand und der Nutzen für die beschenkte Person miteinander in Beziehung gesetzt werden. Das Ergebnis ist Entzücken, Überraschung, Enttäuschung, Wut – je nachdem wie die Kalkulation ausällt.
Wenn solche grundlegenden Dinge verhandelt werden, interessieren natürlich immer auch Tierversuche, in denen Wale, Heuschrecken oder auch Pantoffeltierchen mit Modell-Situationen konfrontiert werden, die eine Analogie zu den komplexen „typisch menschlichen“ sind. Eine Leistung gilt dann als umso grundlegender, wichtiger und stärker biologisch verankert, je mehr Tierarten sich analog verhalten – eine einleuchtende Überlegung.
Der niederländische Verhaltensforscher Frans De Waal hat sich hier besondere Verdienste erworben. Sein Lebenswerk und seine Schlussfolgerungen hat er in einem Buch mit dem vielsagenden Titel „Are we smart enough to know how smart animals are?“ zusammengefasst.
- De Waal, F. (2016). Are we smart enough to know how smart animals are?. WW Norton & Company. Hier ist ein Link zur Buch-Detailseite auf bücher.de
https://www.buecher.de/artikel/buch/are-we-smart-enough-to-know-how-smart-animals-are/47533576
Also: gibt es „Inequity Aversion“ bei Tieren? Kurze Antwort: ja. Längere Antwort: Es kommt auf die Tierart an. Primaten (v.a. Schimpansen) und Krähenvögel sind nachweislich empfindlich, wenn es unfair zugeht, genauso aber auch Elefanten und Delfine. Es scheint, dass eine gewissen Hirngröße und das Leben in einem sozialen Verband zusammenkommen müssen, damit Inequity Aversion entwickelt wird.
In den legendären Experimenten, die am Anfang der Forschung zur Inequity Aversion (und im Mittelpunkt unserer Podcastfolge zum Wisspod-Adventskalender) stehen, wurden Kapuzineraffen untersucht:
- Brosnan, S. F., & De Waal, F. B. (2003). Monkeys reject unequal pay. Nature, 425(6955), 297-299.
Brosnan & de Waal (2003) – Monkeys reject unequal pay
…und natürlich werden wir uns hüten, an dieser Stelle zu verraten, was bei diesem legendären Experiment geschah. Immerhin so viel können wir verraten: Es hatte sehr viel Ähnlichkeit mit einer weihnachtlichen Bescherung.
Noch ein Tipp zum Zugucken: Frans de Waal zeigt in einem TED-Talk eben dieses legendäre Experiment, in dem ein Kapuzineraffe ziemlich schlecht gelaunt auf eine ungleiche Entlohnung reagiert.
Genauso plausibel und menschlich: Inequity Aversion ist besonders ausgeprägt, wenn ein hoher Aufwand erforderlich war, um die Belohnung zu ergattern. dies berichten:
- Van Wolkenten, M., Brosnan, S. F., & de Waal, F. B. (2007). Inequity responses of monkeys modified by effort. Proceedings of the National Academy of Sciences, 104(47), 18854-18859.
https://www.pnas.org/doi/pdf/10.1073/pnas.0707182104
Für den Deep Dive empfehlen wir hier den sehr gut zusammengestellten Artikel der englischsprachigen Wikipedia:
- Inequity Aversion
https://en.wikipedia.org/wiki/Inequity_aversion_in_animals?
2. Eine Einladung zum Potlatch bei den Kwakwaka’wakw
Der Austausch von Geschenken sollte nicht nur zu Weihnachten gerecht und angemessen sein. Ganz drastisch wurde uns das von Frans de Waal gezeigt.
Die Ethnologie erlaubt uns einen Blick auf eine soziale und, überraschend andere, zukunftsweisende Schenk-Tradition aus der Geschichte der First Nations aus Bakiotl (nun British Columbia , Nord Kanada). Wir haben uns mit dem Potlatch beschäftigt – auch geschrieben Potlach; gesprochen „potlätsch“.
Kein einfaches Unterfangen – so faszinierend dieser Brauch ist, so unterschiedlich prägte die kulturelle Herkunft den Blick.
Wir haben uns daher hauptsächlich die Geschichte aus der Sicht der Kwakwaka’wakw (auch „Kwakiutl“), einem Stamm der First Nations, erzählen lassen.
Der Ursprung des Potlatch
„Das Volk der Kwakwaka’wakw wanderten aus dem unwirtlichen Nordosten Sibiriens in ein Land, das sie „Bakiotl“ nannten. Voller Freude und Dankbarkeit ob der Fülle an Fisch, Fleisch, Beeren, Kräutern, Holz als Baumaterial für Kanus, ihre Langhäuser und rituelle Artefakte (Totempfähle) und dem angenehmeren Klima feierte man Feste der Dankbarkeit, an denen man die eigene Geschichte lebendig werden lies und wohlwollend der Ahnen gedachte.
Eine Tradition entsteht
Aus den Freuden-Festen entwickelte sich die Tradition des Potlatch, einem Fest des Schenkens. Potlatch ist ein Wort der pazifischen Nordwestregionen von Kanada und Amerika aus der universellen Handelssprache Chinook und bedeutet „Gabe“ oder „Geschenk“.
In diesem Vererbungsritual wurden noch zu Lebzeiten der „Erblasser“ Namen, Privilegien, Masken, Schnitzereien, Totempfähle und Rituale weitergegeben.
Auch spirituelle Handlungen, Lieder, Tänze und Methoden der Heilung wurden öffentlich gemacht. All‘ das sollte die Kontinuität zwischen der Welt der Ahnen, der Gegenwart und Zukunft sicherstellen.
Die Anwesenheit hochrangiger Zeugen aus anderen Stämmen legitimierte diese Kontinuität: Diese konnten bezeugen, dass „alles mit rechten Dingen“ zugegangen war; dass die Erben rechtmäßig eingesetzt waren.
Das wir keine Vererben von Land mit aufführen hat den Grund in der Regel dass Land nicht vererbbar war, sondern von Jedermann/-frau zu nutzen sein sollte.
Das Ende des Potlatch?
Ein vernünftiges und rauschendes Fest, wie es scheint.
Einen ersten auch visuellen Eindruck gewinnt man auf der Website einer Wander- Ausstellung zum Thema: DIE MACHT DES SCHENKENS. DER POTLACH IM GROSSEN HAUS DER KWAKWAKA´WAWK FIRST NATION. Ausstellung zu Geschenk-Kulturen und Verschwendungs- Ökonomien.
https://www.kulturstiftung-des-bundes.de/de/projekte/bild_und_raum/detail/der_grosse_potlatch.html
Moment – was sind Verschwendungs-Ökonomien? Etwa der durch überbordende Geschenke Rituale zu Weihnachten getriebene Tsunami von „eitlem Tand“ und „unnützem Zeugs“?
Nun, es gibt eine deutliche Differenz zwischen den Erzählungen der indigenen Bevölkerung und denen der eingewanderten Europäer, was denn nun ein Potlatch sei.
Die übereinstimmenden Erzählungen der Kwakiutl zeigen: Grundlegend war die Idee, „etwas“ zu nutzen, aber nicht auf ewig (z.B. in der Familie) zu „besitzen“. Auch wollte man Erbstreitigkeiten verhindern und friedlich weiter gut leben, alles Wissen und Können, den gesamten Besitz zum Wohle aller weiter zu gegeben an die nächste Generation.
In den Augen der eingewanderten, überwiegend protestantisch-calvinistisch geprägten Christen war das gotteslästerlich, höchst unvernünftig oder sogar geisteskrank. Beweis: Die Schenkenden gäben ja „alles“ weg, scheinen sich „in den Ruin geschenkt“ zu haben.
Politiker und Missionare erklärten daher den Potlatch als das eigentliche Hindernis für die Christianisierung des Volkes der Kwakwaka’wakw. Weil christliche Missionare und Politiker die Tradition so gründlich missverstanden, fand er ein vorläufiges Ende und wurde im Jahr 1884 in Kanada verboten und kriminalisiert.
Das Kulturerbe, einschliesslich von zum Teil über 300 Jahre alten Artefakte wurden beschlagnahmt, verschenkt, verkauft und konnten nur zum Teil in Museen gerettet werden.
Potlatch und Weihnachten
25.12.1921 Die Nähe von Potlatch und Weihnachten wird deutlich, als die Kwakwaka’wakw im Dorf Mimkwamlis (Village Island), 300 km nordwestlich von Vancouver, einen verbotenen Potlatch feierten. Mitveranstalter war der Chief (Häuptling) Cranmer.
https://vancouversun.com/news/local-news/this-week-in-history-1921-mass-arrests-at-kwakwakawakw-potlatch-took-place-christmas-day
Grandmother Gloria Cranmer Webster, eine Nachfahrin des Häuptlings Cranmer erzählt über diese Tradition der Vorfahren in diesem Video:
Kwakwaka’wakw – The Potlatch Cermony & Traditions.
Weil immer noch kolonialistisch geprägte Versionen durchs Web irrlichtern, sollte man auf sich mit wachem Blick den Quellen nähern.
Empfehlenswert sind weitere Videos auf Youtube als Quelle.
Mehr Informationen über den Potlatch und die First Nations gibt es bei: Kenneth Greg Watson: [_Native Americans of Puget Sound — A Brief History of the First People and Their Cultures._][1]
HistoryLink.org, 29. Juni 1999.
http://historylink.org/index.cfm?DisplayPage=output.cfm&file_id=1506
Nahm der Bann des Potlatch ein Ende? Erst 1951 wurde die Kriminalisierung aus dem „Indian Act“ gestrichen. 1953 fanden erste Potlatches wieder statt, bei denen man die Sprache und Traditionen der First Nations wieder aufleben ließen und das alte Wissen weitergaben.
https://www.thecanadianencyclopedia.ca/en/article/potlatch
Überraschend kenntnisreich auch die englische Fassung der Wikipedia:
https://en.wikipedia.org/wiki/Potlatch
Das waren: Zwei Geschichten, die sich mit Schenken und Geschenken beschäftigen.
Die erste Geschichte aus der Verhaltenswissenschaft offenbart eindrücklich, wie wichtig und universell Fairness und Gerechtigkeit im Zusammenleben, auch bei Belohnungen und beim Schenken sind.
Also Obacht beim Schenken zum Fest. Heftige Reaktionen der Beschenkten sind nicht ausgeschlossen.
Die zweite Geschichte stammt aus der Ethnologie. Sie macht deutlich, wie das Unverständnis einer fremden (Schenk-) Kultur wirkmächtig (fast) zum Untergang derselben führt.
Man sollte verstehen, weshalb Menschen und Kulturen schenken: es kann eine andere Bedeutung haben, als man annimmt.
Folgenbild
Auch umfangreiche Recherchen gaben aus dem riesigen Fundus von Zeichnungen und Gemälden nichts her für ein passendes Folgenbild.
Aber natürlich bietet das 21. Jhd. jegliche Unterstützung Bildgenerierender Modelle.
Das Folgenbild stammt aus dem virtuellen Pinsel von Googles Gemini.
Der Prompt* das Bild „Im Stile von René Margritte“ zu erstellen zauberte überbordende Trauben auf ein Dach, einen von einer ganzen Gurke enttäuschten Primaten und einen das Ganze freundlich betrachtenden Mann der First Nations in eine Illustration.
Das Weihnachts-„Easteregg“ finden aufmerksame Betrachter:innen an einer exponierten, aber unerwarteten Stelle als Hommage an René Margritte.
*Danke für den Prompt an Henry.
