David Premack und Guy Woodruff waren sich sicher: Sarah hatte gleich bemerkt, dass mit dem Kerl etwas nicht stimmte. Und offensichtlich hatte sie nun keine Zweifel mehr: Der Kerl würde ihr ganz sicher immer die falsche Lösung zeigen und – schlimmer noch – am Ende die Belohnung einfach für sich behalten. Der spielte mit gezinkten Karten! Ein Betrüger! Sarah wurde schnell misstrauisch. Kurz danach verweigerte sie dann jede weitere Zusammenarbeit. Konsequent. Mit dem Betrüger wollte sie nichts mehr zu tun haben. Sarah war eine ziemlich nachtragende Schimpansendame.
Premack und Woodruff konnten Ende der 70er Jahre in ihren bahnbrechenden Untersuchungen mit Schimpansen – wie Sarah – zeigen, wie überaus konsequent und genau diese Primaten Artgenossen und auch Menschen beobachten, um etwas über deren Innenleben in Erfahrung zu bringen. Die Forscher mussten einen Begriff hierfür finden und nannten die Fähigkeit, Motive, Absichte, Emotionen und Persönlichkeitsmerkmale von anderen zu erkennen und in das eigene Verhalten einzubeziehen…
Theory Of Mind
Haben Schimpansen also …Theorien? Premack und Woodroff argumentieren hier sehr klar: Offensichtlich waren ihre Primaten dazu in der Lage, Dinge, die nicht direkt und offen beobachtet, sondern nur geschlussfolgert werden können, für die Vorhersage eines zukünftigen Geschehens zu berücksichtigen. So ist eine Absicht als solche ja nicht sichtbar, sondern nur aus den Konsequenzen eines Verhaltens zu erschließen. Dass jemand mit gezinkten Karten spielt, setzt eine „innere mentale Repräsentation“ dieser Eigenschaft voraus und Annahmen darüber, was in einer Situation geschehen wird. Genau das macht aber eine Theorie.
Die „Theory of Mind“ wurde etwa zehn Jahre später in der Entwicklungspsychologie aufgegriffen – das ist die Teildisziplin, die sich um die Frage kümmert, wie sich Menschen im Verlauf ihrer Lebensspanne verändern. Verschiedene Wissenschaftler/innen begannen mit speziellen Aufgaben das Vorhandensein von Theories of Mind bei Kindern zu untersuchen. Beim einigermaßen berühmten „Sally-and-Ann-Problem“ muss ein Kind verstehen, dass Ann in einem von Sally unbeobachteten Moment eine Situation so manipuliert, dass Sally eine falsche Entscheidung treffen muss, genauer: Ihre Murmel in der falschen Kiste suchen wird… Theory of Mind Aufgaben gibt es mittlerweile im Dutzend und auch Befunde, dass autistische Kinder eben mit diesem Typ von Fragestellung besondere Schwierigkeiten haben.
Warum ist das interessant? Nun, neuere Untersuchungen an Large Language Bot-Systemen – speziell CharGTP – legen nahe, dass auch diese über Theories of Mind verfügen, und zwar in einer Qualität, die man in etwa bei 9jährigen Kindern findet. Die Details berichten wir im Podcast. Wenn dem wirklich so wäre – und mit Sicherheit kann das im Moment noch niemand sagen – hätte sich etwas abgespielt, was man in den Lebenswissenschaften mit einem speziellen Begriff bezeichnet, nämlich:
Emergenz
Emergenz bezeichnet den gerade angedeuteten Sachverhalt: Ein System wird größer, die Breite, Tiefe und Anzahl der Elemente nimmt zu, dann kann man regelmäßig (sozusagen naturgesetzlich) beobachten, dass neue Eigenschaften entstehen, die sich aus den Merkmalen der Einzelelemente nicht mehr herleiten lassen. „Selbstorganisation“ ist hier ein anderer wichtiger Begriff. Lebende Systeme organisieren sich selbst, ordnen sich, regulieren sich, bilden Schichten und Sub-Strukturen…
- Termiten bilden emergent Termitenvölker
- Hirnzellen bilden emergent Strukturen höherer Ordnung bis zum Gehirn
- Korallentierchen bilden emergent riesige Ökosysteme
- Bienen bilden emergent komplexe Bienenvölker
- Körperzellen bilden Gewebe, Organe, Organismen
- usw.
Damit ist unser Vokabular für diese Podcastfolge endlich komplett: Wir fragen uns, ob es wirklich sein kann, dass ChatGPT eine Theory Of Mind entwickelt hat oder – anders formuliert – was es bedeuten könnte, dass er/sie/es die entsprechenden Aufgaben, mit der Theories of Mind bei Menschen untersucht werden, mit Leichtigkeit löst.
Quellen:
- Das erwähnte und sehr empfohlene Online-Lexikon für Psychologen und Pädagogen, das von dem österreichischen Psychologen Werner Stangl geschrieben und gepflegt wird, findet man unter dieser URL: https://lexikon.stangl.eu/
Und hier speziell den Artikel zur Definition der Theory of Mind:
https://lexikon.stangl.eu/511/theory-of-mind - Der erste wissenschaftliche Artikel, in dem der Begriff „Theory of Mind“ verwendet wird, stammt aus der Primatenforschung:
Premack, D., & Woodruff, G. (1978). Does the chimpanzee have a theory of mind?. Behavioral and brain sciences, 1(4), 515-526.
Online abrufbar auf der Researchgate-Profilseite von Guy Woodroff: https://www.researchgate.net/profile/Guy-Woodruff/publication/232003352_Does_a_chimpanzee_have_a_theory_of_mind/links/61e7fad48d338833e37df26a/Does-a-chimpanzee-have-a-theory-of-mind.pdf - Die Studie zu den Theory of Mind Fähigkeiten autistischer Kinder, in der die Sally and Ann Aufgabe eingeführt wurde, hat folgende Quelleninfo:
Baron-Cohen, S., Leslie, A. M., & Frith, U. (1985). Does the autistic child have a “theory of mind”?. Cognition, 21(1), 37-46.
Online abrufbar auf einer Website „Autismtruths.org“ unter der URL: http://autismtruths.org/pdf/3.%20Does%20the%20autistic%20child%20have%20a%20theory%20of%20mind_SBC.pdf - Francesca Happè’s Artikel zum Messen von Theories of Mind mit einem komplexen Aufgaben-Set:
Happé, F. G. (1994). An advanced test of theory of mind: Understanding of story characters‘ thoughts and feelings by able autistic, mentally handicapped, and normal children and adults. Journal of autism and Developmental disorders, 24(2), 129-154.
Der Artikel ist leider nicht offen im Web zugänglich. - Holterman, B., & van Deemter, K. (2023). Does ChatGPT have Theory of Mind?. arXiv preprint arXiv:2305.14020.
https://arxiv.org/pdf/2305.14020.pdf - Der Artikel von Michael, der Anlass zu unseren Spekulationen in Sachen Theory of Mind war:
Kosinski, M. (2023). Theory of mind may have spontaneously emerged in large language models. arXiv preprint arXiv:2302.02083.
https://arxiv.org/pdf/2302.02083.pdf - #Der Beitrag aus den Microsoft Research Labs zu „Funken von allgemeiner künstlicher Intelligenz“, untersucht an verschiedensten Aufgabentypen.
Bubeck, S., Chandrasekaran, V., Eldan, R., Gehrke, J., Horvitz, E., Kamar, E., … & Zhang, Y. (2023). Sparks of artificial general intelligence: Early experiments with gpt-4. arXiv preprint arXiv:2303.12712.
https://arxiv.org/pdf/2303.12712.pdf?utm_source=webtekno - Die Fabel „The Owl Was God“ von James Thurber, die in unserer Diskussion erwähnt wird, kann im Original hier nachgelesen werden:
https://readandripe.com/the-owl-who-was-god/
Quelle zum Episodenbild:
Wir können der Versuchung nicht widerstehen, die allerklassischste aller Geschichten zum Freisetzen ungeahnter Kräfte für unser Episodenbildes heranzuziehen: die Büchse der Pandora. Sie brachte das Unglück über die Welt, weil sie der Versuchung nicht widerstehen konnte, ein Gefäß zu öffnen, in dem alles Leid und Laster der Menschheit eingeschlossen waren. Ein Racheakt von Zeus an der Menschheit – dafür, dass Prometheus (Pandoras Schwager) den Göttern das Feuer gestohlen hatte.
Es gibt Dutzende von Pandora-Darstellungen, viele davon sind hunderte Jahre alt. Wir haben uns für eine Version von Dante Gabriel Rossetti aus dem Jahr 1871 entschieden. Rossetti (1828 -1882) war mitnichten ein italienischer Renaissancekünstler, wie der Name nahelegt, sondern ein britischer Dichter und Maler. Er war die treibende Kraft der Schule der Präraffaeliten, die sich in ihrer Arbeit an den großen Malern der Renaissance – namentlich Raffael – orientierten.
Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Dante_Gabriel_Rossetti_-_Pandora.jpg