(S1/E09) In dieser Folge lüften wir eines der 100-Million-Dollar-Geheimnisse der politischen Kommunikation rund um soziale Medien und klären eine der meistgestellten und trotzdem nur selten schlüssig beantworteten Fragen: Wie und woher und von wem und durch welche Inhalte bekommt man mehr Reichweite? Unsere Antwort fällt… nun, sagen wir: „ernüchternd“ aus.
Warum ernüchternd? Es scheint, dass eine der besten Strategien für die virale Ausbreitung von Inhalten im Bereich von News und Politik das Auslösen, das Triggern von etwas ist, das man vielleicht am besten als „moralische Entrüstung“ bezeichnen könnte. Ein im angelsächsischen Sprachraum geprägter Begriff gefällt uns besser:
Moral Panic!
Das bedeutet: Menschen erzählen besonders gerne das weiter, was sie schlecht, störend, skandalös, intrigant oder FALSCH oder DUMM finden – vor allem dann, wenn sie wissen, dass die Menschen, denen sie ihre Erkenntnis oder Beobachtung mitzuteilen im Begriff sind, diese Ansicht exakt teilen. Vielleicht machen so die ebenso unerklärlichen wie unglaublichen Erfolgszahlen querdenkender Wutbürger/innen in sozialen Medien nun plötzlich Sinn, denn Wut, Empörung, Entrüstung und Hass sind zwar nicht unbedingt sympathische Reaktionen, aber anscheinend ein hoch wirksamer Brennstofffür für das goldene Kalb der Redakteur/innen „Teilen!“. Wobei dieser Begriff natürlich völlig irreführend ist. Was wir teilen, wird weniger, was wir auf sozialen Medien veröffentlichen – genau dies wäre der korrekte Begriff für „sharing“ – wird aber ganz im Gegenteil vermehrt. Und Wut bedeutet dann mehr Wut und das wiederum bedeutet noch mehr Wut.
In der 9. Folge von …achwas!? bewegen wir uns in diesen Untiefen. Und wir möchten unseren Leserinnen und Lesern die entscheidende Grafik aus unserer eigenen Auswertung der Daten zu Facebook-Reactions bei politischen Parteien nicht vorenthalten. Sie zeigt die Anzahl der Shares (y-Achse) und die Anzahl wütender Reaktionen pro Post (x-Achse) für die Facebook-Seite der „Alternative für Deutschland“. Bei anderen Parteien ist dieser Zusammenhang nicht vorhanden oder zu vernachlässigen.
Die Geschichte zum Beitragsbild:
Normalerweise können wir aufgehetzte, moralisch empörte, aggressiv-rechthaberische, Hass verbreitende Social Media Communities ja nicht sehen. Trotzdem haben wir ein – vielleicht nur halb bewußtes – Vorstellungsbild von ihnen. Unser eigenes haben wir einmal mehr in einem Gemälde von Hieronymus Bosch gefunden. „Die Kreuztragung Christi“ wurde durch die Jahrhunderte in Dutzenden Kunstwerken immer wieder dargestellt. Bei Bosch interessiert weniger die Christusfigur, die in ihr Schicksal ergeben und unter ihrem Kreuz leidend in der Mitte des Bildes dargestellt wird, auch die Heilige Veronika am linken Bildrand ist nicht interessant. Beide dienen letztlich nur als Kontrast zu den eigentlichen Helden des Bildes: die verzerrten, dämonischen, mit verschiedensten Tönungen von Verachtung, Ekel, Häme, Hass und Wut aufgeladenen Figuren, die sich in dem Bild drängeln. Ein aufgehetzter Mob aus der Phantasie eines flämischen Malers aus der Renaissance des 16. Jahrhunderts funktioniert also ganz ausgezeichnet für unsere Vorstellung von Shitstorms, Cybermobbing oder anderer wenig erfreulicher Begleiterscheinungen von Online-Communities.
Bildquelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/bb/Hieronymus_Bosch_055.jpg
Quellen:
- Dies ist der Artikel zur Ausbreitung von Inhalten über moralingeschwängerte Posts in Twitter wurde von Brady, W. J., Wills, J. A., Jost, J. T., Tucker, J. A., & Van Bavel, J. J. (2017). Emotion shapes the diffusion of moralized content in social networks. Proceedings of the National Academy of Sciences, 114(28), 7313-7318. Online erreichbar unter https://www.pnas.org/content/114/28/7313.long
- Ein guter Artikel über das Stork-Fountain-Experiment ist in der Online-Ausgabe der Washington Post erschienen. Monica Hesse (2009) Facebook Activism: Lots of Clicks, but Little Sticks. Washington Post. https://www.washingtonpost.com/wp-dyn/content/article/2009/07/01/AR2009070103936_2.html
- Auf dem researchgate-Profil von Jakob Moritz Eberl findet man die Publikation über die emotionale Stimmung auf den Facebook-Seiten der Parteien in Österreich: Eberl, J. M., Tolochko, P., Greussing, E., Song, H., Lind, F., Heidenreich, T., & Boomgaarden, H. (2017). Emotional reactions on Austrian parties’ Facebook pages during the 2017 Austrian Parliamentary election. Computational communication science lab report. https://www.researchgate.net/profile/Jakob-Moritz-Eberl-2/publication/320800145_Emotional_Reactions_on_Austrian_parties’_Facebook_pages_during_the_2017_Austrian_Parliamentary_Election/links/5aafc0a5458515ecebea06bd/Emotional-Reactions-on-Austrian-parties-Facebook-pages-during-the-2017-Austrian-Parliamentary-Election.pdf
…und hier sind die versprochenen Katzenvideos!
- The talking cats: 91 Millionen Aufrufe
- The surprised kitty: 79 Millionen Aufrufe
- The Nyan Cat: mit mehr als 190 Millionen Aufrufen