(S02/E35) Ich arbeite gerade konzentriert an dieser wichtigen Recherche zu meiner Vorlesung als ein leiser Ton mich auf mein Smartphone aufmerksam macht das da auf dem Tisch liegt der Bildschirm leuchtet auf ich gucke natürlich nach was könnte das sein eine Mail-Notification! ich öffne und lese zu meinem Mobilfunkvertrag gibt es jetzt neue Konditionen ich kann mir fette Rabatte sichern wenn ich schnell genug reagiere ich klicke natürlich auf den Link der Browser öffnet sich… Zack mit dem Sonderangebot kann ich zwar nichts anfangen aber Moment…da am Seitenanfang eine Meldung aus dem News-Gedärm Tronald Dump wird endlich angeklagt wird er noch kandidieren können das will ich jetzt aber wissen ich lese atemlos da huscht diese Anzeige der digitalen Spiegelreflex an mir vorbei für die ich mich vorgestern interessiert habe ich erinnere mich mein Gott das wollte ich doch noch machen Preise vergleichen und so natürlich das könnte ich jetzt gleich erledigen also auf in den Shop im Stillen tadele ich mich dafür dass ich immer wieder Dinge unerledigt oder halbfertig liegen lasse nun ja die Kameras sind ziemlich happig …aber Moment da zuckt doch dieses rote Icon rechts oben ist da etwas im Warenkorb natürlich das hatte ich vergessen das Geburtstagsgeschenk für meine Älteste dieser schicke Rucksack… den hatte ich ja in den Warenkorb gelegt aber aus irgend einem Grund nicht gekauft könnte ich rasch erledigen das Shop-System macht mich mit einem freundlichen aber bestimmten Popup darauf aufmerksam dass meine Zahlungsinformationen nicht mehr aktuell sind stimmt ja meine Kreditkarte ist abgelaufen wo ist nur die Neue …und so weiter, und so weiter, und so weiter. Eine Stunde später habe ich…
- meine Recherche nicht beendet,
- keine Schnäppchen ergattert,
- Tronald Dumps Schicksal nicht verstanden,
- keine Spiegelreflexkameras verglichen,
- kein Geburtstagsgeschenk gekauft,
- keine Zahlungsinformation erneuert
- und noch ein Dutzend andere Ziele nicht erreicht.
Wir alle kennen diese oder ähnliche Erfahrungen und wir können unseren Hörerinnen und Hörern versichern: Es liegt nicht an Ihnen, nicht an Euch, nicht an uns! Es sind fest verdrahtete Reflexbögen in unserem Gehirn, die immer wieder dafür sorgen, dass Alarm ausgelöst, das Handeln unterbrochen und die nächste verlockende Absicht in Angriff genommen wird. “Orientierungsreflex” nennt man diese automatisch angetriggerte Alarmreaktion, die immer auftritt, wenn es etwas Neues und / oder Relevantes zu sehen oder zu hören gibt. Und, seien wir ehrlich: gibt es das nicht permanent?
Was bedeutet das? In einer Welt, die mit Störern gespickt ist, erreichen wir unsere Ziele nicht – oder nur langsamer oder unvollständiger. Die Folge ist nicht nur eine desolate Verhaltenssteuerung, sondern auch: schlechte Laune. Genau diese Zusammenhänge interessieren uns und es gibt Hinweise auf eine zusätzliche toxische Komponente, nämlich Mindwandering (das könnte man übersetzen als Gedankenwandern). Das sind alle die für unser aktuelles Handeln eigentlich irrelevanten Gedanken, die uns zwischendrin und im Anschluss an ungebetene und unkontrollierte Störungen immer wieder beschäftigen. Die Studie, über die wir im zweiten Teil der aktuellen Episode unseres Podcasts sprechen, weist also – wieder einmal – etwas Offensichtliches nach: Unterbrechungen machen Menschen unglücklich.
Quellen zur Episode:
- Eine gute Kurzzsammenfassung des Themas Orientierungsreaktion bzw. -reflex findet man im Dorsch Online-Lexikon Psychologie
https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/orientierungsreaktion - Wer gerne gründlich und im Original liest, findet im Internet-Archiv die Original-Arbeit von Sokolov aus dem Jahr 1963. “Perception And The Conditioned Reflex, erschienen in Pergamon Press Verlag, New York https://archive.org/details/sokolov-perception-and-the-conditioned-reflex/mode/2up
- Die im Podcast berichtete Studie über Stimmung, Aufmerksamkeit und Mindwandering: Hobbiss, M. H., Fairnie, J., Jafari, K., & Lavie, N. (2019). Attention, mindwandering, and mood. Consciousness and cognition, 72, 1-18.
https://discovery.ucl.ac.uk/id/eprint/10073349/1/Hobbiss_Attention%2C%20mindwandering%2C%20and%20mood_AAM.pdf
Das Bild zur Episode
Es mag eigenartig klingen, aber ein Stierkampf ist tatsächlich eine gute Analogie zu dem, was unsere Aufmerksamkeit im Web geschieht. Während das bedauernswerte Tier einerseits versucht, ein bestimmtes Ziel – das rote Tuch – festzunageln, wird es andererseits sofort abgelenkt, wenn es richtig brenzlich wird. “Banderillieros” nennt man die Leute, die das mit dem Ablenken in der Arena übernehmen, mit HIlfe so genannter Banderillas – farbige Stäbe mit eiserner Spitze, die sie dem Stier in den Nacken pieksen. Eine ganze “Guadrilla” von Helfern ist versammelt, um das Tier von seinem eigentlichen Gegner abzulenken und im Bedarfsfall helfend einzugreifen. Die Kräfteverhältnisse sind eindeutig und so erscheint es uns auch mitunter, wenn es um die Verteidigung unserer Aufmerksamkeit gegen Übergriffe von Anzeigen, Lock-Angeboten, Fake News, SPAM und irrelevanten Sensationen geht. Das Bild ist von Èdouard Manet (1832-1883) und wurde 1865 gemalt. Manet war von Stierkämpfen fasziniert und hielt ganz unterschiedliche Szenen, die er in der Arena beobachtet hatte, mit dem Pinsel fest.
Bildquelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:%C3%89douard_Manet_-Combat_de_taureau(Mus%C3%A9e_d%27Orsay).jpeg