Wie wir verblöden – oder auch nicht. Digitale Demenz vs. extended Mind

Rechnen auf der Linien und Federn von Adam Ries (1547)
"Rechnen auf der Linien und Federn" von Adam Ries (1547)

Mitunter gibt es auch in der Wissenschaft so ganz spezielle ikonische Sätze. „Wo endet unser Verstand und wo beginnt die Außenwelt…?“ Mit dieser vielzitierten und eigentlich ganz harmlos klingenden Frage beginnen die Autoren Andy Clark und David Charms einen Aufsatz, in dem sie interessante Ideen vorstellen. Was wäre, wenn unsere intuitiven Antworten auf diese Frage – die natürlich etwas damit zu tun haben, dass unser Verstand gefälligst in unserem Gehirn, mindestens aber in unserem Körper ist und nirgendwo sonst – nicht stimmt?

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Als Clark und Charms im Jahr 1998 ihre Gedankenexperimente über die Grenzen von Innen- und Außenwelt beschrieben, gab es noch nicht einmal annähernd das, was wir heute als digitale Transformation erleben – von künstlicher Intelligenz ganz zu schweigen. Auch das Smartphone wurde erst ein knappes Jahrzehnt später so richtig erfunden. Trotzdem können die Autoren uns mit ihren Ideen bei der Bewertung dessen, was da gerade mit uns geschieht, helfen. Kurz zusammengefasst: Menschen haben eine angeborene Tendenz, sich auf Werkzeuge zu verlassen, sofern welche vorhanden sind. Vereinfacht und beschleunigt ein Werkzeug das Erreichen eines Ziels, nutzen wir es also, und zwar einfach deshalb, weil wir nicht blöd sind. Punkt. Clark und Charmers vertreten von hier ausgehend die Auffassung, dass wir zusammen mit unseren Wissen schaffenden oder verarbeitenden Werkzeugen als „Coupled System“ betrachtet werden sollten. Demnach bilde ich zusammen mit meiner Navi-App ein System, das ziemlich gut darin ist Routen zu planen und zu verfolgen und das obendrein in der Lage ist, die aktuelle Verkehrssituation zu berücksichtigen. Es wäre nun nicht sehr intelligent, mit Kompass, Sonnenstand, Verkehrsfunk und Karte langsamer, mühsamer und mit mehr Fehlern unterwegs zu sein. Der Preis für die Nutzung der intelligenten Technologie ist – natürlich -, dass die eigene Orientierungsfähigkeit nun nicht mehr gefordert und damit womöglich wie ein ungenutzter Muskel geschwächt wird. Das Coupled System wird besser, der unbewaffnete Verstand schwächer.

Damit stellen sich grundsätzliche Fragen: Sollen wir die Zeit zurückdrehen und wieder zu Fuß navigieren? Was wird denn am Ende aus dem Gehirn, wenn immer mehr Gedächtnis und Informationsverarbeitung an digitale Werkzeuge delegiert wird? Ist das nicht …gefährlich? Man kann es so sehen und deshalb wird auch gerne mit viel öffentlicher Anteilnahme die Idee vorgetragen, dass wir im Begriff seien, uns und unsere Kinder zu verblöden, weil es da allenthalben jene teuflischen digitalen Werkzeuge gebe. Und alles dies sei von Übel und führe früher oder später zu einer allgemeinen „Digitalen Demenz“ (!). Prominentester Vertreter dieser Theorie ist Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer, seines Zeichens Neuro-Wissenschaftler und Bestsellerautor – und als solcher alles andere als ungeübt im Spielen auf der Tastatur der medialen Aufmerksamkeit.

Was stimmt denn nun: Digitale Demenz (wir verblöden) oder Extended Mind (wir verwenden immer intelligentere Werkzeuge)…? Wir finden, die Frage ist zu einfach gestellt. Was machen wir mit den durch die Digitalisierung frei werdenden Kräften? Wie bereiten wir die nachwachsende Generation, die ihrem natürlichen Drang zur Verwendung digitaler Medien und Werkzeuge hemmungslos nachzugeben scheint, auf die Herausforderungen dieser Situation vor? Was müssen wir an unserem Framing der Situation ändern?

Quellen zur Episode

Aus der Intro:

Quellen zur Digitalen Demenz

Quellen zum Thema Extended Mind

Das Bild zur Episode

Wie immer können wir feststellen: irgendwie ist alles schon einmal da gewesen. Hilfsmittel zum Ausführen komplexer Denk-Operationen gab es schon bei den Inkas, den alten Römern und im antiken China. Ein nahe liegendes Beispiel ist der Abakus, der sowohl beim Rechnen als auch beim Merken von Zahlen hilft. Allerdings gab es in der Geschichte auch sehr viel raffiniertere Rechenhilfen. Niemand geringeres als der berühmte Adam Riese (eigentlich Adam Ries), ein im 16. Jahrhundert lebender Mathematiker, Autor und Lehrer, arbeitete mit einer durchaus raffinierten Version eines „Extended Mind“, einem Rechentisch. Damit konnte man nicht nur Addieren und Subtrahieren, sondern auch komplexere Operationen ausführen. Unser Episodenbild zeigt einen Ausschnitt des Titels seines Bestsellers „Rechnung auf der Linien und Federn – auff allerley Hantierung / gemacht durch Adam Risen“ aus dem Jahr 1547.

Bildquelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Theo_Zasche_Schweinchen_in_der_Schule.jpg