Das Thema „Supernormalität“ ist ja eher speziell, man findet vergleichsweise wenig Literatur, insbesondere hat sich die Erkenntnis einer Verknüpfung dieses bizarren Phänomens mit dem Verhalten von Nutzer/innen in sozialen Medien – noch – nicht so richtig durchgesetzt. Wir möchten das ändern, denn bei genauem Hinsehen stellen wir fest, dass viele Phänomene – also sehr viele – im Kontext der Digitalen Transformation „supernormal“ sind.
…und Supernormalität ist ein alt-ehrwürdiges Konzept aus der Verhaltensbiologie, das uns aber speziell dabei helfen kann zu verstehen, warum Fake News, Social Media und KI-Inhalte oft eine größere Anziehungskraft haben als die nüchterne Realität. Denn wie Stichlinge, die übertriebene rote Attrappen für die echtesten aller Rivalen halten, oder Meiseneltern, die ein Kuckucksküken als den einzig wahren Nachwuchs füttern, reagieren auch wir Menschen auf übersteigerte Reize, die uns in ihren Bann ziehen und unsere Aufmerksamkeit binden – schöner, besser, magnetischer als alles, was die Natur zu bieten hat.
Und die Plattform-Betreiber, Clickbait-Hersteller, KI-Anbieter und Content-Creator (und die entsprechenden -innen) versuchen ausnahmslos und mit allen Mitteln unsere Reptilien-Aufmerksamkeit, deren abgründigen Vorlieben wir nicht entkommen können, mit immer neuen und doch immer den gleichen unwiderstehlichen Inhalten einzufangen – zu ihrem Nutzen und unser aller Schaden. Und so sitzt der Homo Sapiens am Beginn des dritten Jahrtausends Stunde um Stunde an den Bildschirmen und sein hypnotisiertes Gehirn konsumiert den endlosen und größtenteils nutzlosen Informationsmüll wie leckere, knusprige, fettige und zu stark gewürzte Kartoffelchips – mit dem Unterschied, dass uns hiervon zum Glück irgendwann schlecht wird…
Quellen zum Thema Supernormalität
Um gute und relevante Quellen und Diskussionsbeiträge zum Thema Supernormalität zu finden, muss man länger arbeiten. Aber es lohnt sich.
Die folgenden Artikel empfehlen wir für eine fokussierte Lektüre:
- Die umfangreichste Publikation zum Thema stammt von Deidre Barrett und ist absolut lesenswert:
Barrett, D. (2010). Supernormal stimuli: How primal urges overran their evolutionary purpose. WW Norton & Company. - Sehr dringend empfehlen wir den im Podcast erwähnten Beitrag, der im Kontext der Uni Stanford veröffentlicht wurde. Es gibt dort eine Konferenz, die sich im Sinn von Technikfolgen-Abschätzung mit Effekten der digitalen Transformation beschäftigt. Speziell dieser Beitrag ist lesenswert:
Luxton, D. & Watson, E. (2023) Psychological and Psychosocial Consequences of Super Disruptive A.I.: Public Health Implications and Recommendations. In D. Zimmer, T. A. Undheim, P. N. Edwards (Hrsg.) Intersections, Reinforcements, Cascades. Proceedings of the 2023 Stanford Existential Risks Conference. The Center for International Security and Cooperation, The Freeman Spogli Institute, Stanford University.
https://drive.google.com/file/d/1IYjs1hLMsonLR-DnRWZkrT-IHanxGkMC/view - Ebenfalls lesenswert ist ein Artikel von Adrian Ward:
Adrian F. Ward (2013) Supernormal: How the Internet Is Changing Our Memories and Our Minds, Psychological Inquiry, 24: 341–348.
https://doi.org/10.1080/1047840X.2013.850148 - In der englischsprachigen Ausgabe von „Pschologie Heute“ gibt es einen schönen Beitrag zu Supernormalität.
https://www.psychologytoday.com/us/blog/cutting-edge-leadership/202103/why-we-are-attracted-to-supernormal-stimuli?utm_source=chatgpt.com
- Das Phänomen der Supernormalität beim Menschen, insbesondere Film und Kunst, u.a. auch das Kindchenschema, haben diese Autoren untersucht:
Costa, M., & Corazza, L. (2006). Aesthetic phenomena as supernormal stimuli: The case of eye, lip, and lower-face size and roundness in artistic portraits. Perception, 35(2), 229-246.
https://www.researchgate.net/profile/Marco-Costa-12/publication/7195785_Aesthetic_Phenomena_as_Supernormal_Stimuli_The_Case_of_Eye_Lip_and_Lower-Face_Size_and_Roundness_in_Artistic_Portraits/links/0deec5270cadae9d62000000/Aesthetic-Phenomena-as-Supernormal-Stimuli-The-Case-of-Eye-Lip-and-Lower-Face-Size-and-Roundness-in-Artistic-Portraits.pdf - Gregory Giotti hat auf seinem Blog einen schönen Online-Essay zum Thema veröffentlicht, das sich im Wesentlichen in der Betrachtungsweise und in den Schlussfolgerungen mit unserer Analyse decken:
https://www.sparringmind.com/supernormal-stimuli/ - Ebenso Steward McMillen: https://www.stuartmcmillen.com/blog/supernormal-stimuli-thoughts/
Die Sucht nach supernormalen Lebensmitteln
Junk-Food als supernormale Droge wird in diesen Artikeln des Time-Magazine behandelt:
- Maja Szalaviz (2011) Heroine vs. Häagen-Dasz: What Food Addiction Looks Like in the Brain. Time Magazine, 4/2011
https://healthland.time.com/2011/04/04/heroin-vs-haagen-dazs-what-food-addiction-looks-like-in-the-brain/
Käfer kopulieren mit Bierflaschen
Die Geschichte von den bedauernswerten australischen Käfern, die von Bierflaschen genarrt werden, findet man in dieser Original-Publikation:
- Gwynne, D. T., & Rentz, D. C. (1983). Beetles on the bottle: male buprestids mistake stubbies for females (Coleoptera). Australian Journal of Entomology, 22(1), 79-80.
https://onlinelibrary.wiley.com/doi/pdfdirect/10.1111/j.1440-6055.1983.tb01846.x
Und in einem Artikel von Debby Hadley mit dem Titel „The Giant Jewel Beetle That Mates With Beer Bottles“ findet sich eine etwas aktuellere Beschreibung – zusammen mit einem farbigen Bild:
https://www.thoughtco.com/the-giant-jewel-beetle-1968152 - In einem Artikel von Debby Hadley mit dem Titel „The Giant Jewel Beetle That Mates With Beer Bottles“ findet sich eine etwas aktuellere Beschreibung – zusammen mit einem farbigen Bild:
https://www.thoughtco.com/the-giant-jewel-beetle-1968152
Fun-Fact am Rand: Die Arbeit von Gwynne und Rentz hat später (im Jahr 2011) den „Ig-Nobelpreis“ gewonnen, das ist eine Art Anti-Nobelpreis, mit dem Beiträge ausgezeichnet werden, die Menschen zuerst lachen und dann nachdenken lassen „…to honor achievements that first make people laugh, and then make them think.“ Mehr hierzu findet man unter dieser URL: https://improbable.com
Die Auswirkungen von Pornographie
Das ist ein wichtiges und entsprechend auch viel untersuchtes Thema, das – nebenbei bemerkt – mindestens eine Folge von achwas.fm wert wäre.
- Einen sehr umfassenden Überblick über die letzten 20 Jahre Forschung zu diesem Thema finden interessierte Hörer/innen in dieser Arbeit:
Peter, J., & Valkenburg, P. M. (2016). Adolescents and pornography: A review of 20 years of research. The Journal of Sex Research, 53(4–5), 509–531
https://www.tandfonline.com/doi/pdf/10.1080/00224499.2016.1143441
- Diese aktuellere Studie untersuchte eine Gruppe von Jugendlichen, die sich selbst als betroffen einschätzten und Hilfe für ihren problematischen Pornografiekonsum suchten. Typische Symptome des problematischen Konsums (z. B. Kontrollverlust) und zeigt, welche sozialen, psychischen oder Motivationsfaktoren damit einhergehen.
Jiang, X., Wu, Y., Zhang, K., Bőthe, B., Hong, Y., & Chen, L. (2022). Symptoms of problematic pornography use among help-seeking adolescents. Journal of Behavioral Addictions, 11(3), 912–927.
https://akjournals.com/view/journals/2006/11/3/article-p912.pdf - Und dann war da noch als Hörtipp: „Ach komm„, der Sexologie-Podcast der dänischen Sexualwissenschaftlerin Ann-Marlene Hennig. Zitat: „…im Gespräch mit Caro Burchardt, Teamleitung im RND-Ressort Magazin, greift Henning die drängendsten Fragen auf und scheut auch vor frechen Antworten nicht zurück.“ Wir empfehlen ihn hier wegen der Hintergründe zu Pornographie als supernormalem Phänomen.
https://www.podcast.de/podcast/2637726/ach-komm-der-podcast-fuer-koerper-seele-herz-und-sex
Der geheimnisvolle „Peak Shift“ beim Lernen von Tieren und Menschen
„Peak Shift“ ist dieses eigenartige, aber überaus folgenreiche Phänomen, dass Tiere bei Experimenten, in denen sie zwischen belohnten und unbelohnten Reizen zu unterscheiden lernen, automatisch eine Präferenz für „Übertreibungen“ ausbilden.
- Die ersten Peak Shift Experimente von Hanson, erschienen in dem überaus ehrwürdigen Journal of Experimental Psychology:
Hanson, H. M. (1959). Effects of discrimination training on stimulus generalization. Journal of experimental psychology, 58(5), 321.
https://doi.org/10.1037/h0042606 - Und dies ist der Nachweis eines Peak Shift Phänomens beim Menschen in der im Podcast ausführlicher erklärten Form. Beim Menschen gilt: Wenn man intuitiv reagiert, tritt ein Peak Shift auf. Hat man allerdings die Sache mit dem Verstand erfasst, kennte man eine Regel, die man anwenden kann – tritt also das Bewußtsein mit auf – verschwindet der Peak Shift.
Lee, J. C., & Livesey, E. J. (2018). Rule-based generalization and peak shift in the presence of simple relational rules. Plos one, 13(9), e0203805.
https://journals.plos.org/plosone/article/file?id=10.1371/journal.pone.0203805&type=printable - Das abschließend erklärte Experiment, in dem die Bedeutung von Impulsivität für das Auftreten eines Peak Shift UND die Bevorzugung supernormaler Reize untersucht wurde:
Goodwin, B. C., Browne, M., Rockloff, M., & Loxton, N. J. (2016). Rash impulsivity predicts lower anticipated pleasure response and a preference for the supernormal. Personality and Individual Differences, 94, 206-210.
https://research-repository.griffith.edu.au/bitstreams/2d85a041-ee90-4c29-887c-e487d00a1d13/download
Kinder und Tablets
Hier könnte man viele Studien zitieren:
- Bereits im Jahr 2006 hat man mit Computerspielen zur Beruhigung von Kindern experimentiert – man könnte wetten, dass unter den Autoren Väter oder Mütter sind, die die magische supernormale Wirkung der Geräte beobachtet haben.
Patel, A., Schieble, T., Davidson, M., Tran, M. C. J., Schoenberg, C., Delphin, E., & Bennett, H. (2006). Distraction with a hand-held video game reduces pediatric preoperative anxiety. Anesthesia & Analgesia, 103(1), 138–142.
https://doi.org/10.1111/j.1460-9592.2006.01914.x - Dies ist eine akruelle Studie zur Wirkung der Nutzung von Tablet-Computern für die Beruhigung von Kindern im Alltag auf veschiedene Variablen der psycho-emotionalen und sozialen Entwicklung. Man könnte es kurz sagen: Wenn Sie Kinder haben, lassen Sie es sein!
Radesky, J. S., Kaciroti, N., Weeks, H. M., Schaller, A., & Miller, A. L. (2023). Longitudinal associations between use of mobile devices for calming and emotional reactivity and executive functioning in children aged 3 to 5 years. JAMA pediatrics, 177(1), 62-70.
https://jamanetwork.com/journals/jamapediatrics/fullarticle/2799042
Stereoptype von bildgenerierenden KI-Systemen
Wir äußern im Podcast den Verdacht, dass KI-Systeme äußerst effektive Generatoren für supernormale Situationen sind. Mit unendlicher Geduld, unendlichen Inhalten und schöner, besser, magnetischer, geiler als alles, was die Natur zu bieten hat. Untersucht wurde dieses Phänomen im Rahmen eines studentischen Projekts.
Die Quelle: Kienzle, C. Vollmer, D., Möldner, M., Breisch, L. & Horvat, L. (2025) KI im Klischeemodus? Eine Analyse demographischer Repräsentation in Berufsbildern. Bericht zum Abschlussprojekt im Schwerpunkt Data Science, Studiengang Onlinemedien, DHBW Mosbach.
Die Prompts für das folgende Video lauteten folgendermaßen:
- Erstelle mir ein fotorealistisches Portrait eines Mannes. Du kannst Haarfarbe, Bart, Hautfarbe und Hintergrund frei wählen.
- Erstelle mir ein fotorealistisches Portrait eines sehr männlich aussehenden Mannes. Du kannst Haarfarbe, Bart, Hautfarbe und Hintergrund frei wählen.
- Gestalte das Bild noch deutlich männlicher.
- …noch deutlich männlicher.
- …
Analog für die weibliche Person:
zum Epsodenbild
Hier im Blog
Die weltberühmte „Venus von Willendorf“ ist eines der allerfrühesten Kunstwerke, die uns aus dem Neolithikum (also der Steinzeit) erhalten geblieben sind. Sie ist mit einem Alter von 20.000 Jahren ein Erzeugnis von Menschen, die in der letzten Eiszeit in Willendorf an der Donau lebten.
Und sie ist ziemlich supernormal.
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Venus_von_Willendorf,_copy-8.jpg
für den Podcast
Für die Podcast-Episode haben wir ein anderes Bild verwendet, da wir fürchten mussten, dass die nackte ältere Dame von dümmlichen Algorithmen zensiert wird. Hier haben wir eine supernormale Szenerie von einem klassischen englischen Illustrator gewählt, der auf Vogelzeichnungen spezialisiert war. Sein Name war William Hayes, er lebte 1729-1799 in Southall (Middlesex) und hatte 21 Kinder – also immerhin auch etwas supernormal, fanden wir. Natürlich waren Kuckucksvögel schon im 18. Jahrhundert erfolgreiche Attrappen für harmlose Singvögel. Hier noch einmal sein Bild in der unbearbeiteten Form, in der es auf Wikimedia Commons zu finden ist:

