Eisberge bieten sich ja gerne als Vergleich an, wenn es verborgene Dinge gibt, die sich dem Betrachter oder der Öffentlichkeit entziehen. Dunkelziffern, Fehlversuche, unausgesprochene Erwartungen… Sie verbergen bekanntlich neun Zehntel ihrer Masse unter Wasser, nur zehn Prozent sind sichtbar. Wir leihen uns diese Metapher aus, um darüber nachzudenken, dass Faktoren, die in sozialen Netzwerken zu unerwartet großen Reichweiten führen, zum größeren Teil nicht-linear, anorganisch und schwer vorhersagbar sind – unter dem Wasserspiegel eben.
Das ist schon einmal eine wichtige Erkenntnis. Wer also davon hört oder liest, dass man Informationen „teilt“, sollte sich bewusst sein, dass es in den Netzen, in denen wir leben, eigentlich um etwas ganz anderes geht, nämlich das Monetarisieren von viralen Reichweiten. Und hier gilt eine einfache Formel: je mehr, desto besser – oder? Wir teilen nicht, wir veröffentlichen, d.h. wir multiplizieren – und das ist so ziemlich das Gegenteil von einem intimen Vorgang, bei dem man etwas mit Freunden „teilt“. Der Kuchen, den ich zur Party mitbringe, wird mit jedem/r weiteren Freund/in, der/die davon nascht, kleiner. Das ist Teilen.
Aufgrund der Netzwerkeigenschaften von sozialen Medien hat mein privates Video, in dem ich mich etwas ungeschickt verhalte oder vielleicht etwas über den Durst getrunken habe oder einen missverständlichen Witz mache, aber nicht nur theoretisch, sondern ganz wortwörtlich das Potential für eine weltweite, gigantische Reichweite. Jedes einzelne Video kann viral gehen, es gibt keine Limits, keine Bremsen. Das Teilen meines privaten Geschehens mit meinen Freunden und dem intimen Kreis meiner Follower/innen, sei es ein Maleur oder eine Heldentat, kann also ganz unvermittelt und ohne mein Zutun apokalyptisch anmutende Folgen nach sich ziehen. Wir nennen das „Ultraviralität“ und das ist keine Theorie, sondern ein an zahlreichen anekdotischen Beispielen belegbarer Sachverhalt.
Die Beispiele
Um die Idee von Ultraviralität zu illustrieren, haben wir einleitend im Podcast zwei Beispiele erwähnt.
Das „Star Wars Kid„
Eines der ersten richtig ultraviralen Videos ist Anfang der „Nuller“-Jahre von einem kanadischen Jugendlichen mit Namen Ghyzlain Raza gedreht und dann von einem tückischen Kameraden, der eben kein „Freund“ war, „geteilt“ worden. Die 900 Millionen Aufrufe, die es in den nächsten Jahren erzielt hat, haben die seelische Gesundheit des Protagonisten dann fast ruiniert. Man spricht in Zusammenhang mit der Scham, den Schuldgefühlen und darauf folgenden depressiven Reaktionen auch von einem „Medienopfersyndrom“.
Dies ist das Video:
Im Jahr 2022 wurde die Geschichte von Ghyzlain Raza in einem Dokumentarfilm erzählt:
https://en.wikipedia.org/wiki/Star_Wars_Kid:_The_Rise_of_the_Digital_Shadows
Chewbacca Mom
Unser zweites virales Beispiel hat – tatsächlich eher zufällig – auch mit STARWARS zu tun, aber es ist diesmal eine positive Geschichte. Sie betrifft das legendäre „Chewbacca-Mom“-Video, das in drei Tagen 140 Millionen Views erzielt hat – ohne dass die Content Creatorin sich das hat träumen lassen.
Auch das war Ultraviralität und zum Glück hat die Protagoistin das nicht nur gut überstanden, sondern auch in verschiedener Hinsicht von Ihrem unverschuldeten Celebrity-Status profitiert.
andere Quellen
Die Social Brain Hypothese, auf die wir zu Beginn der Episoide Bezug nehmen, wurde von Robin Dunbar Anfang der 90er Jahre erstmals formuliert bzw. entwickelt. Er hat in seiner Arbeit eine plausible und begründete Schätzung der Größe eines „natürlichen sozialen Netzwerks“ eines Menschen vorgenommen. Er kommt dabei auf die „Dunbar-Zahl“: 150-200 Menschen sind demnach ein einigermaßen organisches Netzwerk von Personen, die sich gegenseitig kennen können.
- Die Quelle: Dunbar, R. I. (1992). Neocortex size as a constraint on group size in primates. Journal of human evolution, 22(6), 469-493. Online abrufbar unter der URL:
https://www.etherplan.com/neocortex-size-as-a-constraint-on-group-size-in-primates.pdf
Die anorganischen Netzwerk-Eigenschaften sozialer Medien und ihre Auswirkungen, über die wir uns im Podcast unterhalten, sind in einer Vielzahl von Publikationen belegt.
Dass Lügen erfolgreicher sind als die Wahrheit ist mittlerweile Konsens. Der berühmte Erst-Befund zum Thema ist diese Arbeit:
- Vosoughi, S., Roy, D., & Aral, S. (2018). The spread of true and false news online. science, 359(6380), 1146-1151.
https://www.science.org/doi/pdf/10.1126/science.aap9559?src=getftr
Wie politische Gruppierungen versuchen, das Netz, seine Anonymität und die besonderen unsichtbaren Netzwerk-Eigenschaften für Ihre Zwecke einzusetzen, zeigen verschiedene Geschehnisse und Veröffentlichungen.
- Das „Handbuch für Medienguerillas“ ist ein Dokument, das aus dem rechtsextremen Spektrum stammt und Strategien für Online-Trolling, Infokriege und Meme Wars beschreibt. Es wurde 2017 von der Gruppe „D-Generation“ verfasst und geleakt. Es wurde insbesondere im Umfeld der „Identitären Bewegung“ und der Online-Community „Reconquista Germanica“ verbreitet.
https://www.hogesatzbau.de/wp-content/uploads/2018/01/HANDBUCH-F%C3%9CR-MEDIENGUERILLAS.pdf
- Der Podcast des Südwestfunks über das Kapern der Wikipedia durch rechte Aktivisten kann hier nachgehört werden:
https://swr.de/swrkultur/leben-und-gesellschaft/sockenpuppenzoo-swr-doku-podcast-ueber-rechtsextremisten-auf-wikipedia-100.html
Dass negative Informationen erfolgreicher sind als positive ist ebenfalls kein Punkt, über den man diskutieren muss. Exemplarisch:
- Rathje, S., Van Bavel, J. J., & Van Der Linden, S. (2021). Out-group animosity drives engagement on social media. Proceedings of the National Academy of Sciences, 118(26), e2024292118.
https://www.pnas.org/doi/pdf/10.1073/pnas.2024292118
Der Artikel über die Bedeutung der topographischen Position eines Senders für die Reichweite in sozialen Netzwerken einschließlich der „K-Cell“ bzw. „K-Shell“ Metriken, der im zweiten Teil des Podcasts ausführlich beschrieben wird, hat uns sehr fasziniert. Er ist hier nachzulesen:
- Die Quelle: Pei, S., Muchnik, L., Andrade, Jr, J. S., Zheng, Z., & Makse, H. A. (2014). Searching for superspreaders of information in real-world social media. Scientific reports, 4(1), 5547. Er ist online abrufbar unter der URL:
https://www.nature.com/articles/srep05547.pdf
Ein Befund, der direkt dafür spricht, dass die Nutzer mit ihrem Verständnis der Ausbreitung von Information daneben liegen, ist das Unterschätzen der eigenen Reichweite.
- Nachgewiesen z.B. von Bernstein, M. S., Bakshy, E., Burke, M., & Karrer, B. (2013, April). Quantifying the invisible audience in social networks. In Proceedings of the SIGCHI conference on human factors in computing systems (pp. 21-30).
http://sosuaonline.net/inicio/wp-content/uploads/2013/07/hci.stanford.edu_publications_2013_invisibleaudience_invisibleaudience.pdf
Das Episodenbild
Wenn wir schon Eisberge als Leitmotiv im Podcast haben, müssen natürlich entsprechende Bilder her. Das hier zu sehende hat uns ästhetisch besonders beeindruckt. Es ist von dem seinerzeit nicht unbekannten deutsch-amerikanischen Maler Albert Bierstadt im 19. Jahrhundert gemalt worden.
Bildquelle:https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Albert_Bierstadt_-_The_Iceberg.jpg