Im Jahr 1956 erschien ein Klassiker der Medienforschung, ein nur vierzehn Seiten umfassenes wissenschaftliches Essay, in dem die Donald Horton und Richard Wohl erstmals den Begriff der „parasozialen Beziehung“ bzw. „parasozialen Interaktion“ definieren und gebrauchen. Was sie darin an Gedanken und Überlegungen über die Qualität und die Funktion der Beziehungen eines Publikums zu bestimmten Medienfiguren anstellen, erscheint heute aktueller denn je.
Tatsächlich hat es der moderne Mensch nicht mehr so einfach, was seine sozialen Beziehungen betrifft. Während man früher in einem sozialen Ökosystem mit Familie, Freunden, Sippschaft und vielleicht noch einer regionalen Gemeinschaft lebte, gesellen sich heute zahlreiche mehr oder weniger virtuelle Personen, Heldinnen und Helden und Medienfiguren aller Art hinzu. Horton und Wohn nennen diese „Personae“ (Singular: Persona). Beispiele für aktuell hoch gehandelte Personae wären Attila Hildmann, Jan Böhmermann, Anne Will oder auch Bibi (also, nicht die von „Bibi und Tina“, sondern die von dem Beauty Palace). Gemeinsam haben sie, dass wir sie (a) nur über die Medien vermittelt kennen, und trotzdem (b) von ihnen beeinflusst werden. Diese besondere Art von einseitiger Beziehung, bei der sich ein anonymes Publikum mit Protagonist/innen identifiziert, nennen die Autoren „parasozial“ und tatsächlich liest sich ihr Artikel über weite Strecken wie eine Vorwegnahme dessen, was uns heute in Gestalt von YouTuber/innen und Stars und Sternchen auf Instagram oder TikTok begegnet.
In unserer Podcastfolge rollen wir die Thematik auf, berichten von Studien und modernen Strategien aus dem Marketing, denen zufolge Influencer/innen systematisch akquiriert, evaluiert und mit eigenen Markenwerten und -botschaften synchronisiert werden. Der entscheidende Hebel dabei ist: Authentizität! Nur wer echt erscheint, hat Erfolg. Nur wer anscheinend ungeplant und spontan agiert kann damit rechnen, intensive parasoziale Beziehungen an sich zu ziehen (anders gesagt: Vertrauen zu gewinnen, das sich dann monetarisieren lässt). Auch diese Idee ist von Horton und Wohl schon vorgedacht worden, wenn sie von planned informality sprechen, die für das Herstellen einer intimacy at a distance erforderlich sei. Wenn man sich mit der Thematik beschäftigt, stolpert man schnell über zwei verwandte Themen, die eigene Podcast-Episoden wert sind.
Erstens sind wir vielleicht derzeit nur in einer Übergangsphase, in der echte Menschen immer noch die Voraussetzung dafür sind, dass parasoziale Beziehungen entstehen können. Eine zweite Klasse von Personae, die uns die Digitale Transformation beschert, sind nämlich KI-Avatare, denen wir uns in einer späteren Folge ausführlich widmen werden… Zweitens kommt zur Authentizität noch ein zweiter Schlüsselfaktor für enge parasoziale Beziehungen hinzu: Attraktivität. Je attraktiver eine Persona eingeschätzt wird, desto enger ist die entstehende Bindung. Allerdings ist Vorsicht geboten, denn Attraktivität und Authentizität sind nicht voneinander unabhängig. Aus diesem Grund mahnen die Strategen des Influencer-Marketings, es nicht zu übertreiben. Irgendwann gilt, dass die Dinge zu schön sind um wahr zu sein.
Die Quellen und Lesetipps zur Episode
- Den klassischen Artikel Horton, Donald and R. Richard Wohl (1956): ‚Mass Communication and Parasocial Interaction: Observations on Intimacy at a Distance‘, Psychiatry 19: 215-29 kann man online unter dieser URL nachlesen:
http://visual-memory.co.uk/daniel/Documents/short/horton_and_wohl_1956.html
- TODAY’s First Broadcast: 14. Januar 1952 zeigt die Erstausstrahlung der TODAY Show mit Dave Garroway. Er ist das Paradebeispiel für die in unserer Episode besprochenen Strategien:
https://www.youtube.com/watch?v=vY4_iv3UbGg
- First Tonight Show am 27. September 1954, zu sehen auf YouTube, hier ist der permanente Augenkontakt noch nicht so ausgeprägt, weil Steve Allen eine Live-Show vor Publikum moderiert. Aber Allen war eine der Personae von Horton und Wohn und viele Merkmale der parasozialen Persona lassen sich beobachten:
https://www.youtube.com/watch?v=CW4GXtJ_VgY
- The AI companion who cares – Always here to listen and talk – Always on your side, das ist Replika, der KI-Avatar, den wir im Podcast erwähnen
https://replika.ai/ - Ein schönes Überblickskapitel von Nicola Döring über Empathie, sozialen Vergleich, parasoziale Beziehung und Identifikation: Döring, N. (2013). Wie Medienpersonen Emotionen und Selbstkonzept der Mediennutzer beeinflussen: Empathie, sozialer Vergleich, parasoziale Beziehung und Identifikation. Handbuch Medienwirkungsforschung, 295-310.
https://www.nicola-doering.de/wp-content/uploads/2014/08/D%C3%B6ring-2013-Wie-Medienpersonen-Emotionen-und-Selbstkonzept-der-Mediennutzer-beeinflussen.pdf
- Eine vielzitierte Studie über die Folgen von parasozialen „Breakups“, speziell geht es um das Ende der TV-Serie „Friends“ und ihre Folgen: Eyal, K., & Cohen, J. (2006). When good friends say goodbye: A parasocial breakup study. Journal of Broadcasting & Electronic Media, 50(3), 502-523.
https://web.archive.org/web/20110601053944id_/http://hevra.haifa.ac.il:80/~comm/he/files/yoni/PSbreakup%20Friends.pdf
- Ein Artikel über die unsägliche Listeriene-Influencerin in dem Online-Marketing- und Medienjournal „The Drum“, datiert auf das Jahr 2018, abgerufen am 14.02.2023
https://www.thedrum.com/news/2018/09/02/influencer-featured-ridiculous-listerine-ad-condemns-nasty-response
- Der das Dunkel erhellende Beitrag über die systematische und strategische Planung von Authentizität beim Influencer/innen-Marketing in der Fashion-Industrie: Colucci, M., & Pedroni, M. (2022). Got to be real: An investigation into the co-fabrication of authenticity by fashion companies and digital influencers. Journal of Consumer Culture, 22(4), 929-948.
https://journals.sagepub.com/doi/pdf/10.1177/14695405211033665
- Mehr davon? Hier ein zweiter Artikel über das, was Horton und Wohl planned informality nannten: Zniva, R., Weitzl, W. J., & Lindmoser, C. (2023). Be constantly different! How to manage influencer authenticity. Electronic Commerce Research, 1-30.
https://link.springer.com/article/10.1007/s10660-022-09653-6
Das Episodenbild
Das „Theatre Magazine“ ist eine Publikation, die von der Jahrhundertwende bis in die 20er-30er Jahre in den USA erschien. Uns ist sie aufgefallen, weil auf dem Titel häufig gezeichnete und kolorierte Abbildungen von Personae der damaligen Schauspiel- und Theaterkultur abgebildet waren. Der Stil der Darstellung und der Ausdruck der Personen erinnern frappierend an die Anmutung der photogeshoppten Feeds der modernen Influencer/innen. Unser Episodenbild aus dem Jahr 1923 zeigt die US-amerikanische Schauspielerin Ruth Findlay (1896-1946). Und man wartet darauf, dass sie uns mit „Ihr Lieben…“ anspricht. Gezeichnet wurde sie von dem New Yorker Maler und Illustrator Hamilton King (1871-1952), der irgendwie auf weichgezeichnete Damenportraits spezialisiert war.