Echte Mogelpackungen – Parasoziale Beziehungen und Authentizität

Cover des Theatre Magazins mit einer Portraitzeichnung der Schauspielerin Ruth Findlay
Cover des "Theatre Magazin" aus dem Jahr 1923 mit dem Portrait der US-Schauspielerin Ruth Findley

Im Jahr 1956 erschien ein Klassiker der Medienforschung, ein nur vierzehn Seiten umfassenes wissenschaftliches Essay, in dem die Donald Horton und Richard Wohl erstmals den Begriff der „parasozialen Beziehung“ bzw. „parasozialen Interaktion“ definieren und gebrauchen. Was sie darin an Gedanken und Überlegungen über die Qualität und die Funktion der Beziehungen eines Publikums zu bestimmten Medienfiguren anstellen, erscheint heute aktueller denn je.

Tatsächlich hat es der moderne Mensch nicht mehr so einfach, was seine sozialen Beziehungen betrifft. Während man früher in einem sozialen Ökosystem mit Familie, Freunden, Sippschaft und vielleicht noch einer regionalen Gemeinschaft lebte, gesellen sich heute zahlreiche mehr oder weniger virtuelle Personen, Heldinnen und Helden und Medienfiguren aller Art hinzu. Horton und Wohn nennen diese „Personae“ (Singular: Persona). Beispiele für aktuell hoch gehandelte Personae wären Attila Hildmann, Jan Böhmermann, Anne Will oder auch Bibi (also, nicht die von „Bibi und Tina“, sondern die von dem Beauty Palace). Gemeinsam haben sie, dass wir sie (a) nur über die Medien vermittelt kennen, und trotzdem (b) von ihnen beeinflusst werden. Diese besondere Art von einseitiger Beziehung, bei der sich ein anonymes Publikum mit Protagonist/innen identifiziert, nennen die Autoren „parasozial“ und tatsächlich liest sich ihr Artikel über weite Strecken wie eine Vorwegnahme dessen, was uns heute in Gestalt von YouTuber/innen und Stars und Sternchen auf Instagram oder TikTok begegnet.

In unserer Podcastfolge rollen wir die Thematik auf, berichten von Studien und modernen Strategien aus dem Marketing, denen zufolge Influencer/innen systematisch akquiriert, evaluiert und mit eigenen Markenwerten und -botschaften synchronisiert werden. Der entscheidende Hebel dabei ist: Authentizität! Nur wer echt erscheint, hat Erfolg. Nur wer anscheinend ungeplant und spontan agiert kann damit rechnen, intensive parasoziale Beziehungen an sich zu ziehen (anders gesagt: Vertrauen zu gewinnen, das sich dann monetarisieren lässt). Auch diese Idee ist von Horton und Wohl schon vorgedacht worden, wenn sie von planned informality sprechen, die für das Herstellen einer intimacy at a distance erforderlich sei. Wenn man sich mit der Thematik beschäftigt, stolpert man schnell über zwei verwandte Themen, die eigene Podcast-Episoden wert sind.

Erstens sind wir vielleicht derzeit nur in einer Übergangsphase, in der echte Menschen immer noch die Voraussetzung dafür sind, dass parasoziale Beziehungen entstehen können. Eine zweite Klasse von Personae, die uns die Digitale Transformation beschert, sind nämlich KI-Avatare, denen wir uns in einer späteren Folge ausführlich widmen werden… Zweitens kommt zur Authentizität noch ein zweiter Schlüsselfaktor für enge parasoziale Beziehungen hinzu: Attraktivität. Je attraktiver eine Persona eingeschätzt wird, desto enger ist die entstehende Bindung. Allerdings ist Vorsicht geboten, denn Attraktivität und Authentizität sind nicht voneinander unabhängig. Aus diesem Grund mahnen die Strategen des Influencer-Marketings, es nicht zu übertreiben. Irgendwann gilt, dass die Dinge zu schön sind um wahr zu sein.

Die Quellen und Lesetipps zur Episode

Das Episodenbild

Das „Theatre Magazine“ ist eine Publikation, die von der Jahrhundertwende bis in die 20er-30er Jahre in den USA erschien. Uns ist sie aufgefallen, weil auf dem Titel häufig gezeichnete und kolorierte Abbildungen von Personae der damaligen Schauspiel- und Theaterkultur abgebildet waren. Der Stil der Darstellung und der Ausdruck der Personen erinnern frappierend an die Anmutung der photogeshoppten Feeds der modernen Influencer/innen. Unser Episodenbild aus dem Jahr 1923 zeigt die US-amerikanische Schauspielerin Ruth Findlay (1896-1946). Und man wartet darauf, dass sie uns mit „Ihr Lieben…“ anspricht. Gezeichnet wurde sie von dem New Yorker Maler und Illustrator Hamilton King (1871-1952), der irgendwie auf weichgezeichnete Damenportraits spezialisiert war.

URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Theatre_Magazine_April_1919_cover_-_Ruth_Findlay_by_Hamilton_King.jpg