(S1/E10) Es geht heute um die Frage, wie es denn eigentlich sein kann, dass die Nutzer*innen sozialer und digitaler Medien einerseits ganz nette und normale Menschen sind, die sich aber andererseits höchst aggressiv und destruktiv verhalten. „Online-Disinhibition-Effect“ wurde dieses Phänomen schon im Jahr 1998 von John Suler benannt und es ist so alt wie die computervermittelte Kommunikation.
Damit untertreiben wir natürlich, denn der Kampf zwischen Gut und Böse in einer Person ist allerspätestens seit Robert L. Stevenson’s berühmter Erzählung von Doktor Jeckyll und Mr. Hyde ein klassischer Topos, ein immer wiederkehrendes Erzähl-Thema: zwei Egos die sich in einer Person treffen und bekriegen, eines edel, hilfreich und gut, das andere dämonisch, böse und gewalttätig… In der klinischen Psychologie kennt man dieses Phänomen unter der Diagnose „Multiple Persönlichkeit“. Das gibt es selten, kommt aber vor.
Auf der Suche nach den Ursachen für die sich große Zahl der sich allenthalben fröhlich vermehrenden Mr. Hydes im Web werden wir in Folge 10 kurz im 19. Jahrhundert auf den Schultern von Riesen stehen und uns dann drei experimentelle Studien genauer ansehen: Die berühmte „Stanford Prison Studie“ von Richard Zimbardo, der wir den Begriff des „Luzifer Effekts“ verdanken, dann eine durchaus nicht unbekannte und sehr clever geplante Studie über die Ehrlichkeit von Halloween-Kindern („trick or treat“), die im Wesentlichen die gleiche Erkenntnis liefert: Menschen neigen in Anonymität und in Gruppen dazu, sich schlecht zu benehmen. Schließlich wenden wir uns wieder dem Web zu und berichten über ein beeindruckendes „Real World-Experiment“, das von Psychologen beim Relaunch der Kommentarfunktion der Huffington Post durchgeführt wurde – das Ergebnis ist wieder das Gleiche.
Wir können die Schlussfolgerung vorwegnehmen: Bringe Menschen in Gruppen, mache sie anonym, sperre Autorität aus, sorge dafür, dass niemand bestraft wird. Dann wird es früher oder später Täter und Opfer geben und es werden Trolling, Mobbing und Lynch-Szenen entstehen. Das ist normal. Menschen funktionieren so, aus Dr. Jeckyl wird – statistisch gesehen – Mr. Hyde. Nicht normal ist und verboten gehört aber, dass Social-Media-Anbieter mit solchen Dingen zündeln und dann ins Feuer blasen, um Traffic zu erhöhen, Marktanteile zu gewinnen, Aktionäre und Investoren zufriedenzustellen und – natürlich – Geld zu verdienen.
Die Geschichte zum Beitragsbild:
Wie soll man so etwas wie Deindividuation visualisieren? Uns erschien nach reiflicher Recherche das Konzept der Maske interessant. Wer maskiert ist, ist natürlich anonym und wie in unserer aktuellen Podcast-Folge ausführlich erklärt wird, ist Anonymität genau einer der Schlüsselfaktoren, wenn es um das Erzeugen von „deindividuierten“ Situationen geht. Die Suche nach einem passenden Bild führte uns über weite Umwege (nein, Maskenball in Venedig ist zu trivial…) zu einem belgischen Maler Namens Jean-François Portaels (1818 bis 1895). Er ist ein Vertreter der belgischen akademischen Malerei und war seinerzeit erfolgreich. In seinen Werken findet sich der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Kunstkreisen verbreitete und romantisch-sehnsuchtsvoll aufgeladene Hang zum Orientalismus (aus heutiger Sicht vielleicht eher befremdlich) In einem seiner Bilder portraitierte er eine junge Frau, die sich nachdenklich eine Maske ansieht und dieses Motiv erschien uns endlich sowohl ästhetisch als auch inhaltlich passend für unseren zehnten Podcast-Beitrag.
Bildquelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/7/72/Jean-Fran%C3%A7ois_Portaels_-_Portrait_of_a_young_girl_with_a_mask.jpg
Quellen:
- Wer sich über Gustave Le Bon, den „Erfinder“ der Massenpsychologie informieren möchte, findet einen guten Überblick in seinem biographischen Wikipedia-Eintrag
- Sein Hauptwerk trägt in der deutschen Übersetzung den Titel „Psychologie der Massen“. Es ist heute noch käuflich, wir haben hier die Produktseite bei Bücher.de verlinkt:
https://www.buecher.de/shop/politische-soziologie-und-psychologie/psychologie-der-massen/le-bon-gustave/products_products/detail/prod_id/61769536/
- Über das „Stanford Prison Experiment“ ist sehr viel geschrieben worden. Der beste Einstieg in das Thema bietet die englischsprachige Original-Website zum Projekt mit sehr viel Material zum Thema und auch Links zu Sekundärquellen.
https://www.prisonexp.org/
- Der Beitrag von Diener und Kollegen zu den klauenden Halloween-Kindern hat folgende Quellenangabe: Diener, E., Fraser, S. C., Beaman, A. L., & Kelem, R. T. (1976). Effects of deindividuation variables on stealing among Halloween trick-or-treaters. Journal of personality and social psychology, 33(2), 178.
Man kann diesen Artikel im Original lesen, wenn man Zugang zu den entsprechenden Bibliotheken oder Datenbanken hat. Wir haben eine PDF Datei gefunden und verlinken sie hier:
https://theotherpress.ca/wp-content/uploads/2020/10/Effects-of-Deindividuation-Variable-on-Stealing-Among-Halloween-Trick-or-Treaters.pdf - Zur Studie zur Wirkung von Anonymität auf Online-Kommentare bei der Huffington Post gehört folgende Quellenangabe: Fredheim, R., Moore, A., & Naughton, J. (2015, June). Anonymity and online commenting: The broken windows effect and the end of drive-by commenting. In Proceedings of the ACM web science conference (pp. 1-8). Sie ist online abrufbar unter der URL:
https://www.researchgate.net/publication/305194717_Anonymity_and_Online_Commenting_The_Broken_Windows_Effect_and_the_End_of_Drive-by_Commenting