Natürlich: es gibt alle möglichen relevanten und interessanten Theorien, Studien und Effekte, über die man in einem „Wissenschaftspodcast zur Digitalen Transformation“ berichten kann – und viele davon haben wir schon besprochen. Doch Wissenschaft ist keine Angelegenheit von Einhörnern in Elfenbeintürmen und Wolkenkuckucksheimen, sie ist immer Teil eines historischen und gesellschaftlichen Kontexts...
…und gerade in jüngster Zeit scheint dieser Kontext – die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, in denen die Wissenschaft betrieben wird – interessanter und relevanter als es ein einzelnes Forschungsergebnis jemals sein könnte. Spätestens mit der Corona-Krise sollte uns das klar geworden sein: Der maßgebliche Diskurs für die Öffentlichkeit spielt sich längst nicht mehr zwischen sachkundigen Experten/innen mit Manieren in wissenschaftlichen Publikationen oder im Rahmen eines gepflegten Journalismus ab. Heute geben die Jedermänner/frauen im deregulierten Dschungel der sozialen Medien den Ton an – als ob Reichweite schon eine Qualifikation wäre.
Verantwortlich für diese Misere sind jene, die unterschiedslose reichweitenbasierte Kommunikation ohne Gnade zu ihrem Geschäftsmodell gemacht haben und jene, die uns glauben machen wollen,…
- …dass Lügen und Hetze einer Minderheit gesunder Menschenverstand der Mehrheit seien.
- …dass Medien nicht reguliert werden dürfen und faire Berichterstattung nicht mehr finanziert werden soll.
- …dass die Wahrheit eine beliebige Meinung ist – aber ganz spezielle Meinungen mehr wiegen als die Wahrheit.
- …dass Wissenschaft verboten gehört, wenn sie sich weigert, die richtigen Ergebnisse zu liefern.
- …dass die Gebildeten zuerst die Dummen und dann die Verbrecher sind.
- …dass die Armen Steuergeschenke für die Reichen bezahlen können (Pardon: müssen).
- …dass die scheinbar Guten die wirklich Bösen sind.
- …dass es auch möglicherweise die Feuerwehr ist, die unsere Häuser anzündet.
- …dass man irgendwann endlich zur Tat schreiten muss, um unser Land zu retten.
Am Ende steht die Polarisierung steht dann die Spaltung – und dann?
Weil die Protagonisten des Unfriedens nicht mehr in ihren Echokammern bleiben, sondern damit beginnen Häuser anzünden, Menschen einzuschüchtern, zu bedrohen und zu verprügeln, sollte die Wissenschaft gerade jetzt genau hier hinsehen. Wie kommt es, wie konnte es überhaupt soweit kommen? Was sind das überhaupt für Leute? Gibt es Vorgänge in der Geschichte, von denen wir lernen können? Gibt es Studien dazu? Kann man gegensteuern? Schnell?
In unserer zweiteiligen Folge zum Thema Polarisierung wollen wir uns genau mit diesen Fragen beschäftigen.
Quellen zur Episode:
- Betrachtet man die Stimmenanteile der großen Parteien in Deutschland in Abhängigkeit vom Alter, zeigt sich der zu Beginn unseres Podcasts berichtete und sehr Besorgnis erregende Effekt: Je jünger, desto polarisierter.
https://de.statista.com/infografik/33994/stimmenanteile-bei-der-bundestagswahl-2025-nach-altersgruppen - Die unsägliche Geschichte über Jugendliche, die sich als „Letzte Verteidigungswelle“ der Umvolkung entgegenstemmen und Deutschland vermittels Brandanschlägen auf Fremdländisches retten wollten, kann man auf der links-grün-versifften Website des Norddeutschen Rundfunks gut nachlesen:
https://www.ndr.de/nachrichten/mecklenburg-vorpommern/Letzte-Verteidigungswelle-Braucht-das-Jugendstrafrecht-eine-Verschaerfung,festnahmen110.html - Die Geschichte der Fairness Doctrine kann man auf den Archiv-Seiten der Reagan-Administration nachlesen:
https://www.reaganlibrary.gov/archives/topic-guide/fairness-doctrine
Auch der Wikipedia-Artikel zum Thema ist für eine Übersicht geeignet:
https://de.wikipedia.org/wiki/Fairness-Doktrin - Die ZEIT hat einen lesenswerten und informativen Nachruf zum Tod von Rush Limbeau veröffentlicht. Wer sich kurz informieren will, kann hier das Wichtigste nachlesen:
https://www.zeit.de/kultur/2021-02/rush-limbaugh-us-moderator-donald-trump-rechtskonservativ-radio-verstorben - Zur Geschichte der öffentlich-rechtlichen Medien ist ein Beitrag von Klaus Kamps (2016) sehr zu empfehlen, mit dem Titel: Grundlagen der Medienpolitik. Veröffentlicht auf der Website der Bundeszentrale für politische Bildung:
https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/medienpolitik/171876/grundlagen-der-medienpolitik/#node-content-title-19
- Die korrekte und vollständige Quellenangabe zu dem Buch von Karl Popper, in dem er über das „Freiheits-Paradox“ schreibt, hat folgende Quellenangabe: Popper, K. R. (2003). Die offene Gesellschaft und ihre Feinde: Der Zauber Platons (Vol. 1). Mohr Siebeck. Wir verlinken hier auf die Produktseite auf bücher.de, aber natürlich erhält man das Buch in jedem einigermaßen sortierten Buchladen im Web:
https://www.buecher.de/artikel/buch/die-offene-gesellschaft-und-ihre-feinde-band-i-und-ii/69634277/
- Eine der besten Quellen zur aktuellen Entwicklung – also zugleich der Polarisierung der Medien und der Gesellschaft in den USA – ist der Podcast „OK America“, der von Klaus Brinkbäumer und Sikle Haveritz unter dem Dach der Wochenzeitung DIE ZEIT veröffentlicht wird.
https://www.zeit.de/serie/ok-america - Ein wahrlich klickenswerter Link ist die Website des deutschen Presserats, der nicht nur die Prinzipien des verantwortlichen und freien Journalismus vertritt, sondern auch als Korrektiv für Fehlverhalten in den Medien fungiert:
‚https://www.presserat.de/ - Ein Beitrag von Ezra Klein zum Thema Non Player Character – die fatale Wirkung der Einschüchterung der passiven Mitläufer in politischen Institutionen – kann hier als Podcastfolge gehört werden:
https://pod.wave.co/podcast/the-ezra-klein-show/the-republican-partys-npc-problem-and-ours-acbfeb23 - Relativ aktuelle Übersichtsarbeiten zum Thema Infrahumanization und Dehumanization wären:
Haslam, N., & Loughnan, S. (2014). Dehumanization and infrahumanization. Annual review of psychology, 65(1), 399-423.
https://www.annualreviews.org/content/journals/10.1146/annurev-psych-010213-115045
Rodríguez-Pérez, A., & Betancor, V. (2023). Infrahumanization: a restrospective on 20 years of empirical research. Current Opinion in Behavioral Sciences, 50, 101258.
ISO 690
https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S2352154623000128
Studien zum Thema Polarisierung findet man übrigens sehr zahlreich. Zwei relativ aktuelle Beispiele:
- Die Mercator Stiftung hat 2023 eine Studie zur Untersuchung von Tendenzen zur Bildung polarisierter Meinungen veröffentllicht: https://www.stiftung-mercator.de/de/publikationen/polarisierung-in-deutschland-und-europa
- Die große unabhängige Meinungsforschungsinstitut PEW Research Center hat aktuell (Frühjahr 2025) eine Studie veröffentlicht mit dem Titel Americans’ Trust in One Another:
https://www.pewresearch.org/2025/05/08/americans-trust-in-one-another/
Zum Episodenbild
Arthur Thiele (1860–1936) war ein deutscher Illustrator und Karikaturist, der vor allem für seine humorvollen Postkartenmotive bekannt war. Thiele lebte und arbeitete in Leipzig und schuf eine Vielzahl an Zeichnungen, die vor allem in der Zeit um die Jahrhundertwende zwischen 1900 und 1930 populär waren. Das hier verwendete Motiv stammt aus dieser Tradition. Es zeigt eine Szene von prototypischer Konkurrenz und Gruppendynamik. Wir meinen: ein Bild, das junge Menschen beim Tauziehen zeigt, ist hervorragend als Allegorie auf soziale und politische Polarisierung geeignet.
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Arthur_Thiele_Tauziehen.jpg