Stolpersteine – Stufen der Moral im Netz

Gemälde einer Statue der Justitia, der griechischen Göttin der Gerechtigkeit
Justitia (Gemälde von Carl Spitzweg, 1857)

Heinz überlegte, ob er jetzt in die Apotheke einbrechen sollte. Eigentlich war ja ein ein unbescholtener Bürger, aber seine Frau brauchte eben dringend dieses Medikament, es ging um Leben und Tod! Und der Apotheker hatte es abgelehnt, ihm einen Preisnachlass zu geben. Heinz hätte nur die Hälfte zahlen können. Was sollte er tun? Was würdet Ihr / würden Sie tun? Die Rechte des Apothekers respektieren, die Straftat des Einbruchs vermeiden, aber die geliebte Frau sterben lassen…? Oder eine Straftat zu begehen mit dem Risiko erwischt zu werden…?

Niemand weiß, was Heinz wirklich getan hat, denn die ganze Geschichte inklusive des Dilemmas wurden eigentlich nur erfunden, damit sich Menschen eine moralisch mehrdeutige Situation vorstellen, sodass man sie dann danach fragen kann, wie sie ihre Entscheidung begründen. Es stammt aus dem “Defining Issues Test”, von dem in dieser Episode von achwas.fm ausführlich erzählt wird. Und es gibt darin noch mehr Dilemmata:

  • Soll der Arzt der Frau das tödliche Medikament geben, wenn sie ihn darum bittet?
  • Soll der Rektor die Studentenzeitung verbieten, weil ich Eltern beschweren?
  • Soll der Werkstattbesitzer den asiatischen Mitarbeiter einstellen, obwohl ihn das Kunden kosten könnte?
  • Soll man einen tugendhaft lebenden und bestens in die Gesellschaft integrierten Nachbarn verraten, weil man zufällig erfährt, dass er vor Jahren aus dem Gefängnis ausgebrochen war?

Mit Hilfe des DIT kann man bestimmen, auf welche Ebene oder Stufe der Argumentation sich ein Mensch bewegt. Und das ist ein weiterer Schwerpunkt unserer Podcast-Folge. Wir beziehen uns hier speziell auf den US-Psychologen Lawrence Kohlberg, dessen Stufen der Moral eine Art Standard für die Bewertung moralischer Argumente definieren. Von unten nach oben sortiert kann man diese Stufen folgendermaßen benennen:

  • Präkonventionelle Moralität
    (Stufe 1): Gehorsam und Strafvermeidung.
    (Stufe 2): Eigeninteresse und Belohnungen.
  • Konventionelle Moralität
    (Stufe 3): Soziale Konformität und Anerkennung.
    (Stufe 4): Autorität und soziale Ordnung
  • Postkonventionelle Moralität
    (Stufe 5): Sozialer Vertrag und individuelle Rechte.
    (Stufe 6): Universelle ethische Prinzipien.

Das klingt theoretisch, ist sehr praktisch, denn man kann in dieses Raster sowohl das Denken und Handeln von Menschen als auch das Verhalten von Firmen einordnen. Was man mit so etwas anfängt? Nun, wir Universelle Ethische Prinzipien

…und dann war da noch die Frage, wieso es sein kann, dass immer mehr Menschen immer weniger Manieren haben. Fake-News-Produzenten kommen uns da angesichts der immer häufiger und handfester werdenden Angriffe auf politisch Andersdenkende fast schon harmlos vor. Doch wie kann es denn sein, dass man sich derart daneben benehmen und trotzdem ruhig schlafen kann? Das ist eine Frage, mit der sich unser zweiter wissenschaftlicher Protagonist, Albert Bandura, beschäftigt. Seine Prinzipien des moral disengagement (zu übersetzen als Auflösen von Moral) sind nicht ganz so prominent wie die Kohlberg’schen Stufen, aber mindestens so praktisch:

  • Entschuldigende Vergleiche: Wir sollen schlimm sein? Die anderen sind ja noch schlimmer!
  • Moralische Rationalisierung: Man wird ja quasi dazu gezwungen, wenn man seiner Bürgerpflicht genüge tun will.
  • Euphemistisches Labeling: Wir pöbeln nicht, wir sind einfach emotional engagiert.
  • Falsches Konstruieren von Folgen: Das ist doch nur Spaß, das tut niemandem weh.
  • Entmenschlichung: Die kommen ja daher wie ein Heuschreckenschwarm.
  • Schuldzuweisung: Hätten sie sich nicht gewehrt, wäre gar nichts passiert.
  • Verschieben der Verantwortung: Der Chef hat nichts dagegen unternommen.
  • Diffusion der Verantwortung: Die anderen haben ja auch mitgemacht, ich war das nicht alleine.

Und wir haben den Eindruck, all dies kürzlich irgendwo gehört zu haben

Quellen

  • Auf dem Landesbildungsserver des Landes Baden-Württemberg findet man sehr reichhaltiges Material rund um das Thema “Moralische Dilemmadiskussion”
    https://www.schule-bw.de/faecher-und-schularten/gesellschaftswissenschaftliche-und-philosophische-faecher/ethik/methodik-didaktik/methodik-ethik/dilemma-diskussion
  • Absolut hörens- und sehenswert ist in diesem Zusammenhang ein Interview mit Traudl Junge, der Privatsekretärin von Adolf Hitler, in dem sie u.a. erklärt, wie Hitler durch die Aussage, er selbst übernehme die Verantwortung für alles Fragwürdige, was Angehörige der SS oder der Wehrmacht tun könnten, eine Art moralische Ausnahmesituation kreierte. Das Manöver war genau dazu gedacht, Verbrechen ohne Skrupel zu ermöglichen. Unser wissenschaftlicher Protagonist Albert Bandura würde das als “Verschiebung” von Verantwortung bezeichnen. Übrigens: Eine Taktik, mit der es auch verschiedenen geistlichen Würdenträgern in der Zeit der Kreuzzüge immer wieder gelungen ist Situationen herzustellen, in denen ihre Follower völlig enthemmte Massaker unter der Zivilbevölkerung anrichteten. Der Dispens wurde hier raffinierterweise sogar auf die Zeit nach dem Ableben ausgedehnt – erinnert an die zweiundsiebzig Jungfrauen, die Dschihad-Kriegern in Aussicht gestellt werden, wenn sie sich unzweifelhaft absolut verbrecherisch verhalten.

    Das Interview mitr Traudl Junge wurde von André Heller geführt und unter dem Titel “Im toten Winkel” veröffentlicht. Frau Junge ist als geläuterte Anhängerin und Mitarbeiterin Hitlers, die in der Rückschau sehr reflektiert und klug über die Zeit des Nationalsozialismus nachdenkt, überzeugender als viele Dokus und Faktenchecks. Wir verlinken hier das ganze eineinhalb Stunden dauernde Interview:
    – Teil 1: https://www.youtube.com/watch?v=-5D2U7GPkpw
    – Teil 2: https://www.youtube.com/watch?v=hB2c8sJBfGs

zum Episodenbild:

Unser Episodenbild ist ein Ausschnitt aus einem Gemälde von Carl Spitzweg aus dem Jahr 1857. Es passt gleich in mehrerer Hinsicht zum Thema Moral. Die Göttin der Gerichtigkeit, die mit der Augenbinde und der Waage… mehr Moral geht kaum, fanden wir. Um das Bild gibt es auch eine komplizierte Geschichte, denn es wurde gehörte ursprünglich einem wohlhabenden jüdischen Kunstliebhaber namens Leo Bendel, der es 1937 an eine ebenfalls jüdisch betriebene Kunsthandlung verkaufte, die 1939 “arisiert” wurde. Es handelte sich damit um Beutekunst der Nazis. Wir können die ganze Geschichte hier nicht erzählen, bemerkenswert ist allerdings noch, dass das Bild erst nach 2007 – nachdem die FOCUS und Cicero darüber berichtet hatten – an die Erben Bendels zurückgegeben wurde. Im Jahr 2020 wurde es für 550.000 Euro versteigert.

Bildquelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Spitzweg-justitia.jpg