Wissenschaft, Moral und Social Media

Eine ältere Frau gibt einer jungen Dame, eine moralische Unterweisung, die jene überhaupt nicht interessiert.
Mauritshuis Schalcken: A Useless Moral Lesson (1680)

Bis zum Jahreswechsel 2020/2021 war John Roderick mit sich im Reinen gewesen. Als mediale Figur, Musiker und Podcaster war er auf ein bestimmtes Image spezialisiert. Er war der Zyniker, kaltblütig, unbestechlich und unerschrocken. Ein Mensch also, der sich gerne daneben benimmt, dem es nichts ausmacht, wenn er unbeliebt ist …

Als seine Tochter ihn darum bat, eine Dose Bohnen zu öffnen, weil sie Hunger hatte (es ging um „baked beans“), witterte er eine gute Gelegenheit: Er als „asshole dad“, der seiner Tochter die Hilfe verweigert und sich zynisch und altklug-erzieherisch an ihrer wachsenden Verzweiflung weidet … Eine wunderbare Twitter-Story! Roderick machte sich an die Umsetzung und veröffentlichte eine Art Protokoll, in dem er die Verzweiflung seiner Tochter, ihre Versuche, ihn zum Handeln zu bewegen, und seinen Widerstand dagegen genüsslich schilderte.

Wir sind sicher: Im Nachhinein hat er seine Idee verflucht, denn nur wenige Stunden nach der Veröffentlichung der Geschichte stand er im Zentrum eines veritablen Firestorms (dt. Shitstorm), der sein schier-un-mög-liches-und-un-er-träg-liches Verhalten als Vater zum Thema hatte und ihn schließlich an Rang Eins der Twitter-News katapultierte. Das war selbst für den hartgesottenen Medienprofi zu viel. Er schaltete sein Profil offline und beeilte sich, eine wortreiche Entschuldigung zu veröffentlichen, in der er sich zähneknirschend selbst der parentalen Inkompetenz und Gefühllosigkeit bezichtigte und für alle sichtbar geißelte … Natürlich war das zu spät. Die internationale Presse war schon auf den Vorgang aufmerksam geworden, und in allen wichtigen Medien – von Newsweek über die New York Times und den Guardian – wurde der Fall von „Bean Dad“ besprochen.

All dies wäre nicht so interessant, wenn nicht zur gleichen Zeit der – noch – amtierende Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika ebenfalls eine – allerdings sehr viel kürzere – Konversation gehabt hätte. Den berüchtigten „Georgia Phone Call“. Das war ein Anruf beim Wahlleiter des Bundesstaates Georgia, in dem Trump relativ direkt verlangte, es sollten – bitteschön! – noch einige Zehntausend Stimmen für den Kandidaten der Republikaner auftauchen. Er machte einige kreative Vorschläge, wie das geschehen könnte, aber letztlich sei es ihm egal, man müsse auch die Namen der betroffenen Wählerinnen und Wähler nicht kennen, auf das Ergebnis komme es an: Er habe die Wahl in Georgia gewonnen!

Nun, wenn man sich die Sache einmal nüchtern betrachtet, dann sind John Roderick und seine Tochter sicherlich eine gute Geschichte, anhand derer man sich alle möglichen Gedanken über gelingende oder misslingende Erziehung, Väter und Töchter und mediale Inszenierungen auf sozialen Medien machen kann. Aber seien wir ehrlich: Sie war nicht so wichtig wie Donald Trumps erpresserische Anrufe.

… Nicht einmal annähernd.

… Nicht im Entferntesten.

Man könnte auch sagen: Die beiden Vorfälle sind in ihrer Relevanz um Zehnerpotenzen, mehrere astronomische Einheiten voneinander entfernt. Hier ein mäßig skandalöses privates Drama, dort ein Anschlag auf die Grundfesten einer Weltmacht mit 330 Millionen Bürger/innen. Die mächtigste Demokratie aller Zeiten musste sich gegen einen Angriff in ihrem Innersten verteidigen …

Trotzdem: Die Algorithmen und Mechanismen von Twitter haben beschlossen, dass die angesichts einer schwer zu öffnenden Dose verzweifelnde Neunjährige genauso relevant sei, wie der angesichts einer schwer zu fälschenden Wahl verzweifelnde 74-jährige. Die einzige Voraussetzung ist, dass die Empörung in etwa gleich hohe Wogen schlägt! Und das ist das Problem. Die Algorithmen und Mechanismen sozialer Medien interessieren sich dafür, Aufmerksamkeit zu monetarisieren, und dabei spielt es keine Rolle, worum es sich handelt. Wichtig ist die moralische Empörung. Und wenn sich diese an einem ungeschickt behandelten Haustier, einem schlecht erzogenen Kind, einem bei Rot überschrittenen Fußgängerübergang oder einem Putschversuch in der mächtigsten Demokratie der Welt aufbaut, dann ist das alles gleich …

Das ist der Kern der Erzählung in dieser Folge von achwas.fm, und wir kümmern uns nicht nur um die inhaltlich interessanten Fragen, sondern auch darum, was Wissenschaft ist und wie man die Qualität von Quellen und Informationen bewerten kann.

Quellen

Die wissenschaftlichen Quellen zur Episode

Über akademische Publikationen

  • DIE Suchmaschine für wissenschaftliche („akademische“) Publikationen schlechthin ist natürlich Google Scholar: https://scholar.google.de/
  • Auch Archive.org stellt 35 Millionen wissenschaftliche Publikationen zur Verfügung. Die Sammlung reicht von digitalisierten Kopien von Zeitschriften aus dem achtzehnten Jahrhundert bis hin zu den neuesten Open-Access-Konferenzberichten und Preprints, die aus dem World Wide Web gesammelt wurden:
    https://scholar.archive.org
  • Die „Master Journal List“ des britisch-amerikanischen Unternehmens Clarivate ist der offizielle Standard für die Berechnung des „Impact Faktors“ und des Rankings von wissenschaftlichen Zeitschriften:
    https://mjl.clarivate.com/home

Bean Dad meats Donald Trump

Oxytocinwirkung

Zum Episodenbild

Godfried Schalcken (8. Oktober 1643 – 16. November 1706) war ein niederländischer Künstler, der sich auf Genrebilder und Porträts spezialisierte. Schalcken war bekannt für seine Nachtszenen und seine Meisterschaft in der Darstellung von Kerzenlicht. Er malte im hochpolierten Stil der Leidener Feinmaler. Das Episodenbild trägt den Titel „A Useless Moral Lesson“ und zeigt eine lebenserfahrene ältere Dame, die einer völlig uninteressierten jungen Frau irgendwelche moralischen Ratschläge gibt. Eine Szene, die so alt ist wie die Menschheit.

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Henri_Dillens_-The_Moral_Lesson-S-227-Museum_of_Fine_Arts_Ghent(MSK).jpg