(S1/E21) Mal ehrlich: Woher wissen Sie eigentlich, wie attraktiv Sie für‘s andere Geschlecht, besser gesagt: eine zur eigenen sexuellen Orientierung adäquate Partnerperson, sind? Gibt es vielleicht ein “Attraktometer”, das man für diesen Zweck nutzen könnte? Eher nicht. Oder sieht man das nicht einfach so, im Spiegel? Auch schwierig – wenn man sich nicht gerade in einem passenden Märchen der Gebrüder Grimm aufhält (Spieglein, Spieglein…). Trotzdem gelingt es uns ziemlich zuverlässig eine Ahnung zu haben, wie unser Marktwert auf Tinder zu bewerten wäre. Wir wissen auch, wie virtuos unsere Tanz-Videos auf TikTok gemacht sind und wieviel Anerkennung durch ihr Publikum sie verdienen. Wir können zudem jederzeit Auskunft darüber geben, wie beliebt unsere Posts und Bilder sind, wenn wir sie mit denen unserer Freund/innen vergleichen – wozu gibt es schließlich Likes und Shares! Und wenn unsere Bilder und Posts beliebt sind, sind wir es dann nicht auch…? Die Grundlage für diese überhaupt nicht trivialen Urteile sind – unter anderem – soziale Vergleiche.
In Folge 21 unseres Podcasts kümmern wir uns eben hierum: „soziale Vergleichsprozesse“ – eine weitere tragende Säule der Psychologie – und ihre Bedeutung in sozialen Medien. Oder besser: wir kratzen an der Oberfläche des Themas. Und wir müssen eigentlich gar nicht erklären, was das ist, denn wir alle kennen das aus eigener Erfahrung. Man beobachtet permanent andere Menschen, setzt sich zu ihnen in Beziehung und vergleicht sich in vielerlei Hinsicht mit ihnen – ob man will oder nicht. Mitunter ist das sehr offen erkennbar, beispielsweise, wenn Zensuren vergeben werden und der Notenspiegel dann dazu dient, die eigene Leistung zu beurteilen – nicht absolut oder normativ (mit einer Note), sondern auch relativ zu den anderen. Bei einem Durchschnitt von 3.5 ist eine 2.5 ziemlich gut, liegt der Schnitt bei 1.2, ändert das die Situation grundlegend. Das ist also ein typischer und offensichtlicher sozialer Vergleichsprozess. Es mag sein, dass das automatisch geschieht, sodass es uns nicht wirklich bewusst wird, doch es geht nicht anders: viele unserer eigenen Eigenschaften oder Merkmale können wir nur sinnvoll bewerten, wenn wir Vergleichsmenschen zur Verfügung haben. Möglichst viele, möglichst repräsentative -und möglichst adäquate!
Mit diesem Wissen betrachtet man die Inhalte und die Akteure und Autor/innen in sozialen Medien noch einmal ganz neu: Es sind eben nicht einfach nur unsere mehr oder weniger unverbindlichen “Freunde” oder “Follower”, sondern die repräsentativen Vergleichsstichproben, das Beobachtungsmaterial, das unser Verstand nutzt, automatisch und unabweisbar, um zu beurteilen, was erlaubt oder unerlaubt ist, geschmacklos oder feinfühlig, aggressiv oder friedlich, sexy oder prüde, attraktiv oder unattraktiv. Will man die Wirkung sozialer Medien auf ihre Bewohner/innen besser verstehen, lohnt es, hierüber nachzudenken.
Und dann gibt es da auch noch inadäquate soziale Vergleiche, für die wir einen Begriff aus der vergleichenden Verhaltensforschung ausleihen: Supernormale Attrappen! Neugierig, was das ist? Hören Sie unsere Folge 21!
Quellen zur Folge:
- Das legendäre Buchkapitel über soziale Vergleichsprozesse von Leon Festinger: Festinger, L. (1954). A theory of social comparison processes. Human relations, 7(2), 117-140.
- Die Studie zu Victoria’s Secret Fashion Show:
Chrisler, J. C., Fung, K. T., Lopez, A. M., & Gorman, J. A. (2013). Suffering by comparison: Twitter users’ reactions to the Victoria’s Secret Fashion Show. Body image, 10(4), 648-652.
https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S1740144513000594 - Die zweite in der Episode berichtete Studie von Vogel et al., in der es um die Bedeutung einer “sozialen Vergleichstendenz” als Persönlichkeitsmerkmal geht.
Vogel, E. A., Rose, J. P., Okdie, B. M., Eckles, K., & Franz, B. (2015). Who compares and despairs? The effect of social comparison orientation on social media use and its outcomes. Personality and Individual Differences, 86, 249-256.
Abrufbar in researchgate unter der URL:
https://www.researchgate.net/profile/Bradley-Okdie/publication/279298740_Who_compares_and_despairs_The_effect_of_social_comparison_orientation_on_social_media_use_and_its_outcomes/links/5b8055a14585151fd12f6b56/Who-compares-and-despairs-The-effect-of-social-comparison-orientation-on-social-media-use-and-its-outcomes.pdf
Das Bild zu Folge 21
Die britischen Industriellentöchter Kate und Grace Hoare wurden kurz vor ihrem 20. Geburtstag von dem englischen Maler John Everett Millais portraitiert. Er malte acht Monate an dem Bild und es gilt als eines der Meisterwerke der britischen Porträtmalerei. Beim ersten Hinsehen scheinen die beiden jungen Frauen gleich auszusehen, auf den zweiten Blick erkennt man subtile Unterschiede im Ausdruck: Eine scheint verwegener, die andere wirkt zurückhaltend, fast ängstlich. Dies war wohl vom Künstler beabsichtigt, um das Temperament bzw. den Charakter der jungen Damen wirklichkeitsgetreu wiederzugeben. Zwillinge sind für das Thema des sozialen Vergleichens natürlich ein ganz besonders interessanter Fall. Wen sehen sie eigentlich in ihrem Gegenüber, wenn sie sich gegenseitig ansehen: sich selbst oder eine Variante von sich selbst oder jemand anderen oder alles gleichzeitig? Sicherlich sind Zwillinge in Bezug auf soziale Vergleiche in einer ganz besonderen Situation.
Das Bild ist veröffentlicht unter Creative Commons Lizenz 4.0 und die schönste digitale Version, die wir auch als Episodenbild verwenden, findet sich auf der Website des Fitzwilliams Museums in Cambridge
https://beta.fitz.ms/learning/look-think-do/twins
Das Bild war und ist immer wieder Gegenstand kunsthistorischer Analysen und Projekte. Eines der bestdokumentierten und interessantesten findet sich unter dieser URL:
https://www.museums.cam.ac.uk/lookingatcollections/projects/the-twins-1