Neulich hinter der großen Mauer: Das Web in China

Postcard einer rassistischen Karikatur eines Chinesen mit gefletschten Zähnen
Rassistische Postkarte von Fred Lounsbury, USA, 1907

Von China ist viel die Rede dieser Tage. Sei es die neue Seidenstraße, das chinesische Engagement in Afrika, die Hafenterminals in Hamburg oder diverse Olympiaden. Auch in der Welt der Digitalisierung ist das Reich der Mitte immer für eine Schlagzeile gut: Ausschluss von HUAWEI beim Ausbau des 5G-Netzes für Großbritannien, chinesische Hacker kapern Microsoft… Die Zeiten, in denen man Wolken von Chinesinnen und Chinesen im blauen Einheitslook radelnd auf leergefegten achtspurigen Straßen sehen konnte, sind schon lange vorbei.

In dieser Folge von achwas.fm widmen wir uns vor allem dem geheimnisvollen Punkte-System, mit dem chinesische Bürgerinnen und Bürger zuerst bewertet und dann belohnt oder bestraft werden. In der westlichen Öffentlichkeit besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass das sozusagen ein Orwell’scher Super-GAU ist, eine fleischgewordene Black-Mirror-Vision. „China’s rulers aim to implement an Orwellian system premised on controlling virtually every facet of human life…“ wußte der amerikanische Vizepräsident Mike Pence im Jahr 2019 zu berichten. Moment: Black Mirror? Das ist eine ziemlich dystopische Netflix-Serie, in der verschiedene Aspekte digitaler Technologien von künstlicher Intelligenz über Kampfroboter bis soziale Medien dargestellt und sozusagen in eine beängstigende Zukunft weitergedacht werden. Nun, wer sich einmal mit interkultureller Kommunikation und Kulturvergleich beschäftigt hat, ahnt, dass da möglicherweise etwas nicht ganz stimmt.

Das ist das Thema unserer China-Folge. Blickt man durch die individualistische Silicon-Valley-Brille auf Projekte aus kollektivistischen Kulturen, kann leicht das eine oder andere Missverständnis entstehen – umgekehrt übrigens ganz genauso. Aber die chinesische Kultur ist viertausend Jahre alt und vielleicht ist die Art und Weise, wie man dort mit Digitalisierung, vernetzten Rechnern und Smartphones umgeht nicht uninteressant für uns. Dieser Frage gehen wir nach. Durchaus interessant ist dabei noch eine andere Frage, ob es sich bei der allenthalben anzutreffenden Vorsicht gegenüber den Chinesen (Stichwort: gelbe Gefahr) um…

(a) berechtigte Vorsicht gegenüber einer imperialistischen Supermacht oder

(b) ein Echo unserer eigenen Bemühungen, Produkte möglichst billig zu produzieren und deshalb ihre Herstellung in Billigstlohnländer zu verlagern oder

(c) schlichten Rassismus

…handelt.

Wir meinen: Es lohnt, diese Aspekte zu unterscheiden und sich beim Nachdenken und vor allem beim öffentlichen Diskutieren aller drei Möglichkeiten bewusst zu sein.

Nachtrag zu (c) Rassismus: Die Glutamat Unterstellung

In den späten 60ern des 20.Jhds standen Chinarestaurants unter Druck: Sie wurden verdächtigt, tonnenweise mit einem chemischen Stoff die US Bevölkerung zu malträtieren. Hitzewallungen, Herzrasen, Übelkeit, Benommenheit, Ohnmachtsanfälle wurden in einem Artikel von Dr. Robert Ho Man Kwok im „New England Journal of Medicine (NEJM)“ veröffentlicht.
Auch schon davon gehört – oder erlebt? Das Chinarestaurant-Syndrom!
Nun ja, es war allerdings kein Artikel, sondern ein Brief an den Herausgeber. Auch lag dem Ganzen keine Studie zu Grunde, sondern, wie Dr Ho Man Kwok es ausdrückte, seine Wahrnehmung etwa 20 Minuten nach dem Besuch eines Chinarestaurants. Nachdem die Presse und die Major Networks (TV) diese Information ungeprüft weitergaben, verbreitete sich das wie ein Lauffeuer weltweit. Und Chinarestaurants sahen sich gezwungen, Speisen ohne Glutamat anzubieten, um die Kundschaft nicht zu verlieren.
Schaut man genauer hin, zeigt sich: Es wurden in einer Reihe von Studien keine Effekte der beschriebenen Art festgestellt. Der Verdacht lag nahe, dass Erdnüsse oder Shrimps in Saucen die Übeltäter sein könnten – allerdings eines Effektes, der überhaupt nicht nachzuweisen war. Ein weiterer Aspekt wurde so formuliert: „Leiden über 1 Mrd. Asiaten an ständigem Kopfweh, Übelkeit, Ohnmachtsanfällen und Herzrasen“?
Dieses Natriumglutamat ist auch in europäischer Würze (Maggi, Fondor, …) enthalten, und auch Nahrungsmittel enthalten „von Natur aus“ diese natürliche Würze.

Und: „Umami“ ist neben salzig, bitter, süß und sauer der 5. Geschmackssinn. Und dieser Geschmack wird von Lebensmitteln bereitgestellt, die Natriumglutamat enthalten.

War es eine rassistische Entgleisung, die bereitwillig aufgegriffen wurde?
Eine genauere Untersuchung dieser Geschichte wurde unter dem Aspekt von Medienpolitik und dem Titel „Never let a good story get in the way of the truth“ ein Blogbeitrag von anecdote.com in 2019 veröffentlicht.
https://www.anecdote.com/2019/03/good-story-truth/

Quellen:

  • Die Website des Projekts „Center for Humane Technology“ unseres Protagonisten Tristan Harris:
    https://www.humanetech.com/

    und hjer spricht Tristan Harris über TikTok in China und im Rest der Welt:

Das Bild zur Episode:

Wir zeigen als Episodenbild eine Postkarte aus den USA, die 1907 von dem amerikanischen Verlegers, Grafiker und Karikaturisten Fred C. Lounsbury gemalt bzw. hergestellt und vertrieben wurde. Schon damals war allenthalben von einer gelben Gefahr die Rede und die Idee, die heute unter dem unsäglichen Tump’schen Mantra „They steal our jobs“ diskutiert wird, war in der Öffentlichkeit überaus beliebt. Natürlich war sie auch damals falsch, denn die USA waren auf die billigen Arbeitskräfte aus Asien angewiesen, um ihre Wirtschaft am Laufen zu halten.

Zur Übersetzung des Textes auf der Karte: „Chink“ bedeutet so viel wie Schlitz oder Spalt und war im frühen 20. Jahrhundert eine geringschätzige und beleidigende Bezeichnung für asiatische Menschen. Man kann es vielleicht mit unserem „Schlitzauge“ gleichsetzen.

Schreibe einen Kommentar